Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde
sehr tief, und sie kam gut voran, auch wenn ihre Tasche seltsam schnell schwer wurde. Dann machte der Weg unvermittelt eine Biegung und führte in ein dicht bestandenes Wäldchen, dessen Baumkronen alles Mondlicht schluckten. Der Weg unter ihren Füßen war jetzt düster. Unwillkürlich warf sie einen Blick über die Schulter, auf die dunkleren Schatten. Es war sehr still. Auch der Wind blies nicht mehr, und sie konnte nichts hören außer dem gleichmäßigen Knirschen des Schnees unter ihren Stiefeln.
Sie blieb stehen, um ihre Reisetasche über die andere Schulter zu werfen. Ohne das gleichmäßige Geräusch ihrer Schritte war die Nacht schaurig still. Kein Wind, kein Blätterrascheln. Dann hörte sie in der Ferne das Tu-Wit, Tu-Wit einer Eule, gefolgt von einem langen, zitternden Schrei, ein Geräusch, das sie frösteln ließ. Sie ging weiter, ohne zu bemerken, wie tief sich der Tragegurt der Tasche in ihre Hand über ihrer Schulter drückte.
Ihre Augen hatten sich jetzt an die Dunkelheit gewöhnt, und sie konnte mehr Einzelheiten erkennen. Die knorrigen Eichen mit ihrem massiven, leicht erkennbaren Profil, die verworrene Masse der Bäume des Wäldchens, die sich am Rande des Weges drängten, der dichte Vorhang, den eine Schlingpflanze bildete œ eine Waldrebe vielleicht -, die in Büscheln über den Weg hing, der nun erneut einen Knick machte. Der Boden unter ihr war plötzlich wieder in Mondlicht gebadet. Mit einem Seufzer der Erleichterung ging sie schneller. Als der Weg steiler wurde, geriet sie in ein unkontrolliertes Schlittern, schwankte, blieb aber auf den Beinen.
Dann sah sie den umgestürzten Wagen. Vorsichtig näherte sie sich ihm. Mit unruhig pochendem Herzen bahnte sie sich einen Weg durch die abgebrochenen Zweige. Unter dem Schnee waren noch die Schleuderspuren zu sehen, und ebenso die dunklen Flecken, die sich bei Tageslicht wahrscheinlich als Blut herausstellen würden. Ihr Atem beschleunigte sich, als sie um die auf der Seite liegende Kühlerhaube spähte. Es war niemand da. Erleichtert berührte sie das kalte Metall und sah den Schnee, der im Inneren auf der Konsole liegengeblieben war. Der Unfall mußte vor einiger Zeit passiert sein, und wer auch immer sich im Auto befunden hatte, war nicht mehr hier.
Das laute Krachen eines brechenden Zweiges ließ sie abrupt stehenbleiben. Sie sah sich mit laut pochendem Herzen um und warf einen Blick zum Himmel. Der Mond war fast verschwunden. Noch ein paar Sekunden, und das dicke Band aus schweren Wolken voller Schnee, das gleichmäßig vom Meer herantrieb, würde ihn geschluckt haben. Es war fast Mitternacht.
Über ihren Nacken lief ein Schauer, während sie weiterging und versuchte, ihre Gefühle objektiv zu betrachten. Es war eine primitive Reaktion auf die Angst vor etwas, das gar nicht existierte. Oder war da draußen in der Dunkelheit vielleicht doch etwas? Etwas, das sie beobachtete. Sie schluckte schwer und zwang sich weiterzugehen. Es konnte jetzt nicht mehr weit bis zum Farmhaus sein. Ein Nachlassen des Mondlichts ließ sie wieder einen Blick nach oben werfen. Nur noch ein paar Sekunden, und der Mond würde verschwunden sein. Sie hielt ihre Tasche fester umklammert, wollte aber nicht schneller gehen. Die Angst vor der Dunkelheit war ein irrationaler Rückfall in primitive Zeiten. Sie lebte im 20. Jahrhundert. Hier draußen gab es keine wilden Tiere, die Schlange standen, um sie zu fressen, keine feindlichen Stämme, keine bösen Geister, keine Gespenster. Sie war eine rationale, aufgeklärte Frau; eine Wissenschaftlerin. Andererseits in wenigstens einem der Bücher in ihrer Tasche wurden überzeugende Argumente dafür vorgebracht, daß Geister und Gespenster tatsächlich existierten.
Als die Dunkelheit schließlich kam, war sie vollkommen. Sie geriet ins Stolpern œ eine logische Reaktion auf die plötzliche Blindheit. Das würde sich geben, sobald sich ihre Augen wieder an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Sie wußte, daß der Weg ohne Hindernisse war; einen Moment zuvor hatte sie noch zwanzig Meter weit sehen können, warum hatte sie also angehalten? Warum war sie davon überzeugt, daß auf dem Weg jemand stand, direkt vor ihr? Warum verspürte sie diesen schrecklichen Drang, sich umzudrehen und dorthin zurückzulaufen, wo sie hergekommen war?
»Komm schon, Anne!« Wie ihre Schwester neigte auch sie dazu, laut mit sich selbst zu sprechen. »Beweg dich. Deine Füße werden kalt!« In der Stille wirkte der Klang ihrer Stimme schockierend;
Weitere Kostenlose Bücher