Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde
Schneeregen, der im Scheinwerferlicht entgegenkommender Autos weiß funkelte. Die Straße war einigermaßen gerade, und sie kam viel schneller voran, als sie erwartet hatte. Sie fuhr an Dunmow und Braintree vorbei und bog schließlich auf der mehrspurigen Hauptverkehrsstraße, die durch die Ebenen von East Anglia nach Suffolk führte, nach Norden ab. Im Hintergrund spielte leise das Radio, und einmal gab es eine Unterbrechung für den Wetterbericht. œ Gräßlich: über Nacht zunehmende Schneefälle, und morgen würde ein stürmischer Ostwind Schneeverwehungen verursachen und bei Vollmond die Flut stark steigen lassen. œ Es folgten die neuesten Nachrichten, dann gab es wieder Brahms und Schumann.
Es war zehn nach zehn, als sie auf einer Parkbucht vor einem vielarmigen Wegweiser anhielt und das Innenlicht anschaltete, um noch einmal auf ihre Straßenkarte zu sehen. Redall war als kleiner Punkt an der Küste eingezeichnet, zu dem eine durchbrochene Linie führte, die irgendeine Art von Weg anzeigte. Um zu diesem Weg zu kommen, mußte sie zuerst etwa vier Meilen über kleine, verwinkelte Landstraßen fahren. Sie machte ein finsteres Gesicht. Der Schneefall war stärker geworden, und obwohl das kleine Auto bisher tapfer durch alles gefahren war, was sie ihm vor die Räder gelegt hatte, gab es jetzt, da sie sich auf einer verlassenen Straße befand, Anzeichen dafür, daß es allmählich die Bodenhaftung verlor. Außerdem hatten sich auf beiden Seiten der von Hecken gesäumten Straße trügerisch glatte Schneeverwehungen gebildet.
»Was soll‘s, pflügen wir uns weiter durch«, murmelte sie vor sich hin. Sie hatte bereits einen Pub an einer Art Hauptstraße ausgemacht, etwa eine halbe Meile von Redall entfernt. Vielleicht sollte sie erst einmal darauf zuhalten.
Die Reifen schlitterten beunruhigend, als sie den ersten Gang einlegte und hinaus auf die Mitte der Fahrbahn fuhr, aber nachdem sie erst einmal im Fahren war, hielt der Wagen auch die Spur. Links. Links. Rechts. Sie wiederholte laut die Abzweigungen, als sie immer vorsichtiger in die zunehmend engeren Straßen einbog. Sie mußte jetzt fast da sein. An der nächsten Biegung sollte der Pub sein.
Irrtum. Sie fuhr weiter. Die Abzweigung, von der sie wußte, daß sie nach ein paar hundert Metern auftauchen mußte, kam nicht. Die Straße machte einen Bogen landeinwärts, lief nicht eingezeichnete steile Hügel hinauf und wieder hinunter und wand sich zu ihrem nicht geringen Ärger zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war. Sie mußte irgendwo eine Abzweigung übersehen haben.
»Verdammt!« Sie hielt an und konsultierte wieder die Karte. Auf dem Papier sah alles so einfach aus. Links, links, rechts. Ein Stück geradeaus, eine Kurve, der Pub und dann noch ein paar Kurven bis zum oberen Ende des Weges. Sie kurbelte das Fenster herunter und starrte hinaus. Der Wind war eiskalt, schneidend. Eiskristalle bissen ihr in die Haut. Alles, was sie hören konnte, war das ferne Stöhnen des Windes. Hastig kurbelte sie das Fenster wieder hoch.
Sie dachte schon über die Möglichkeit nach, die Nacht im Auto zu verbringen. œ Ohne Decken und Thermoskanne nicht eben eine angenehme Aussicht; da sah sie, daß sich vor ihr die Lichter eines Hauses durch den Schnee abzeichneten. Es war zwar kein Pub, aber wenigstens würden die Bewohner wissen, wo sie sich befand.
Sie wußten es: Es waren noch gut fünf Meilen bis Redall. »Sie sind dort hinten falsch abgebogen.« Der ältere Mann im Bademantel, der die Tür geöffnet hatte, hatte sie in die Diele gebeten, wo sie beide die Karte studierten. »Besser, Sie fahren da unten weiter«, er zeigte mit einem vom Nikotin verfärbten Finger darauf, »und dann die Flußmündung entlang zurück.«
»Sind Sie allein unterwegs?« Eine dürre, bleiche Frau in einem nilgrünen Bademantel, das zottige Haar in Lockenwicklern, erschien oben an der Treppe. »In einer solchen Nacht sollten Sie hier nicht allein rumfahren.«
»Ich weiß.« Anne setzte ein breites Lächeln auf. »Ich wußte nicht, daß das Wetter so schlimm werden würde.«
»Möchten Sie vielleicht eine Tasse Tee, bevor Sie weiterfahren?« Die Frau kam jetzt mühsam die Treppe herunter, eine Stufe nach der anderen.
Anne geriet schwer in Versuchung, aber sie schüttelte den Kopf. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber ich glaube, ich sollte besser nicht länger warten. Der Schnee ist schon ziemlich hoch, und ich will nicht steckenbleiben.«
»Fahren Sie vorsichtig«, nickte
Weitere Kostenlose Bücher