Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde
das Risiko keine Gedanken zu machen. Joe auch nicht. Natürlich sind sie älter. Vielleicht haben sie keine überschüssigen Energien. Susie und Cissy -« Sie runzelte die Stirn. »Es kann sein, daß ihre Erlebnisse ihre Energien so erschöpft haben, daß sie ihm ohnehin nicht mehr von Nutzen wären.«
»Ich gehe rauf und sehe mal nach ihnen allen.« Kate richtete sich auf.
Die Treppe war kalt und dunkel, als sie, die Kerze in der Hand, unten stand und hinaufsah. Sie hielt die Hand vor die Kerze, als sie zu flackern begann, und setzte den Fuß auf die unterste Stufe. Hinter ihr, durch die offene Tür, sah sie, wie Paddy die Teekanne füllte. Am Kamin starrten Anne und Greg in die Flammen.
Sie machte den nächsten Schritt und dann noch einen, blickte angestrengt nach oben. Der Flur roch wie immer, sauber und ein wenig nach Mottenkugeln œ aus dem Wäscheschrank, nahm sie an. Sie blieb stehen, wartete, daß sich das Kerzenlicht beruhigte, sah, wie die Schatten über die rosa Wände liefen. Hinter der geschlossenen Tür zu Gregs Zimmer hörte man ein gleichmäßiges, kehliges Schnarchen. Joe. Sie atmete tief durch, legte die Hand auf den Griff und schob die Tür vorsichtig ein Stück weit auf. Das Zimmer war stockfinster, aber das Geräusch des Schnarchens, das plötzlich laut in ihren Ohren hallte, war beruhigend gleichmäßig. Sie zog die Tür wieder zu und wandte sich dem Ende des Korridors zu. Das Schlafzimmer von Diana und Roger. Alles war still. Sie zögerte. Es erschien ihr ungehörig, einen Blick in ihr Schlafzimmer zu werfen, aber sie mußte es tun. Keiner von ihnen würde schlafen können, bevor sie nicht wußten, daß alles in Ordnung war. Sie hielt ihre zitternden Hände so ruhig sie konnte, drückte den Griff nach unten und öffnete die Tür. Auf dem Nachttisch brannte eine kleine Kerze. Im Licht der Flamme konnte sie gerade noch die beiden Köpfe auf dem Kissen sehen. Alles schien ruhig zu sein. Blieben noch Alison und Susie. Sie öffnete ihre Tür und blickte hinein, ging dann in das Zimmer und beleuchtete mit ihrer Kerze die beiden schlafenden Gesichter. Die Mädchen sahen friedlich aus, die Wangen leicht gerötet, ihre Gesichter ergreifend jung und verletzlich. Sie schlich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer und warf einen Blick nach hinten, auf das dunkle Rechteck von Patricks Tür. Cissy.
Im Zimmer herrschte immer noch ein einziges Durcheinander. Patrick hatte nur einen kurzen Blick auf seine heruntergerissenen Bücher geworfen und war dann aus dem Zimmer gegangen. Soviel sie wußte, hatte er es seitdem nicht mehr betreten. Sie konnte die gekrümmte Gestalt der Frau in seinem Bett sehen. Sie drehte sich unruhig hin und her, und während Kate sie beobachtete, begann sie zu murmeln. Kate verharrte in ihrer Bewegung. Ihre Hand, die die Kerze hielt, zitterte heftig, und sie sah, wie die Schatten über die Wände sprangen und tanzten. Die Temperatur war um mehrere Grad zurückgegangen. Wo bist du?
Die Worte formten sich lautlos auf ihren Lippen. Sie machte das Kreuzzeichen über Cissys Kopf und schloß einen Moment lang die Augen zum Gebet. Als sie sie wieder öffnete, schien das Zimmer wärmer geworden zu sein. Sie ging rückwärts aus dem Zimmer, schloß leise die Tür und überließ Cissy sich selbst.
Patrick stellte das Tablett mit den Bechern unten vor dem Feuer auf den Kaminrand und warf sich dann in einen Sessel. Sem Gesicht war grau vor Erschöpfung, als er seinen Bruder anblickte. »Es kommt alles wieder in Ordnung oder, Greg?« Seine Stimme zitterte.
Greg sah den Jungen aufmerksam an, und seine Gesichtszüge wurden weich. »Klar doch.«
»Versuch, ein bißchen zu schlafen, Paddy.« Kate schlüpfte in das Zimmer und schloß hinter sich die Tür zur Treppe. Sie nahm einen der Becher, drückte ihn an ihre Brust und hoffte, daß die anderen das Zittern ihrer Hände nicht bemerkten.
Patrick nickte. Er lehnte sich zurück und schloß die Augen.
Das Zimmer wurde still. Auch Greg spürte, wie ihm die Lider immer schwerer wurden. Er blickte von Anne zu Kate und wieder zurück. Es gab eine starke Familienähnlichkeit zwischen ihnen. Ihr Teint und ihr Körperbau glichen sich, und in diesem Moment auch der Ausdruck von Erschöpfung, der sich auf ihren Gesichtern abzeichnete. Er seufzte. Schlaf. Sie alle brauchten jetzt Schlaf. Vielleicht würden sie morgen aufwachen und herausfinden, daß das Ganze ein gräßlicher Alptraum gewesen war.
LX
Jon schreckte aus dem Schlaf hoch. Er blickte angestrengt im
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