Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde
gefürchtet hatte, den langen Marsch vom Pub aus allein durchstehen zu müssen. Er hatte nicht eine Minute lang an Kates Geschichte von einem Gespenst geglaubt, aber die unglaubliche Einsamkeit der Nacht, der Schnee, die Stille, der Wind, all das war ziemlich entnervend.
Sie stellten den Land Rover neben den roten Fiesta unter die Kiefern, dann holten sie Jons Reisetasche und eine Plastiktasche vom Rücksitz, die vier von Ron als Abschiedsgeste spendierte Dosen Lager enthielt. Sie sperrten den Wagen ab und schauten hinunter auf den Weg.
»Fertig?« Pete grinste seinen Begleiter an.
»Fertig.«
Jon zwang sich zurückzulächeln, aber plötzlich hatte er angefangen zu zittern.
LXI
Sie waren wieder da. Stimmen eines Alptraums. Voller Haß und Wut. Sie trieben sie aus dem Bett. Horchend stand sie mitten im Zimmer. Sie lauschte auf etwas, das weit weg war. Das Meer. Das Meer war jetzt die Gefahr. Sie konnte das Tosen der Wellen hören, konnte sehen, wie Wände aus Gischt über den Dünen zusammenschlugen.
Erzähl es ihnen. Erzähl ihnen meine Geschichte.
Claudia war jetzt die Stärkere. Im Heulen des Windes war ihre Stimme lauter als seine.
Erzähl es ihnen. Erzähl es ihnen. Laß sie selbst urteilen.
Dann war er da. Marcus. Seine Stimme war lauter. Haß. Wut.
»Nein!«
Alison drehte sich langsam im Kreis, hob die Hände an den Kopf und riß an ihren Haaren. Sie kämpften miteinander; kämpften in ihrem Kopf; kämpften um den letzten Rest ihrer Kraft.
Das Grab. Sie mußte zum Grab gehen.
Sie mußte es vor dem Wasser retten.
Sie mußte sterben.
Sterben mit der Hure im Lehm.
Leben.
Sterben.
Leise ging die Tür auf, und sie ging hinaus in den Korridor, die nackten Füße warm auf dem dünnen Teppich. Sie ging weiter zur Treppe, begann hinunterzugehen, sah nichts als die Vision in ihrem Kopf. In der Dunkelheit am Fuße der Treppe gingen ihre Hände unfehlbar zum Griff auf der Innenseite der Tür, obwohl es dort stockfinster war, ohne ein Licht. Die Tür öffnete sich, und sie betrat das Wohnzimmer. Leise schritt sie zwischen den schlafenden Gestalten hindurch zur Diele.
Am Feuer bewegte Paddy sich unruhig in seinem Stuhl, aber erschöpft machte er nicht die Augen auf, nicht einmal, als der kalte Luftzug von der offenen Tür die Scheite im Kamin hell auflodern ließ.
Mit noch immer nackten Füßen stand sie auf der Schwelle und starrte blind hinaus in den Schnee. Etwas ließ sie innehalten œ ein innerer Schutzengel befahl ihr, in Stiefel und Jacke zu schlüpfen -, dann machte sie die Tür leise hinter sich zu und ging.
Im Wohnzimmer schliefen die anderen weiter.
LXII
Jon und Pete rutschten im Schnee immer wieder aus, als sie langsam den Weg hinunterstapften. Petes fröhliches Geplauder war schließlich leiser geworden, und außer einem gelegentlichen, von Herzen kommenden Fluch, wenn er in den hart gefrorenen Furchen ausrutschte, war er still geworden. Jon blieb hin und wieder stehen, um einen finsteren Blick auf das zu werfen, was noch vor ihnen lag. Der Schneefall hatte jetzt nachgelassen, und er konnte alles um sie herum deutlich sehen. Der Mond stand hoch über den Wolken und warf ein mattes, weißes Leuchten über den Wald. Er war sicher, daß sie sich verlaufen hatten.
Der Weg, dem sie gefolgt waren, schien plötzlich zu Ende gewesen zu sein, und die letzten zwanzig Minuten hatten sie sich gezwungen gesehen, einem schmalen Pfad durch das Gestrüpp zu folgen, der aussah wie ein Wildwechsel. Was immer es war, er war eng und voller Brombeersträucher, und der Schnee war manchmal so hoch gewesen, daß er ihm von oben in die Stiefel gefallen war.
Hinter ihm fluchte Pete wieder. Jon grinste. Er blieb stehen und drehte sich um. »Kann nicht mehr weit sein.«
»Nein? Ich schätze, dieser Ort ist so eine Art Brigadoon. Dies Dorf taucht nur alle hundert Jahre mal auf.«
»Hoffentlich täuschst du dich.« Jons Antwort kam von Herzen. Er zitterte, als ein Windstoß an seiner Kleidung riß. Hundert Meter weiter begann der Wald sich zu verändern.
Das dichte Eichen- und Weißdornwäldchen wurde lichter. Die Luft wurde, wenn das überhaupt möglich war, noch kälter, und als sie um eine Biegung des Weges kamen, fanden sich Jon und Pete am Rand der Dünen.
Jon kniff die Augen zusammen, um sie vor dem Wind zu schützen, und sah sich angestrengt um. »Wohin jetzt?« »Ich kann das Meer hören.« Pete hielt sich die Hand ans Ohr.
»Gleich hinter dem Sand da. Teufel, es ist ganz nah.«
Sie kletterten die
Weitere Kostenlose Bücher