Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde
Düne hoch und konnten jetzt den Strand überblicken. Riesige Reihen wütender Brecher brachten den Strand zum Schäumen, und über dem Wasser konnten sie sehen, wie die braunen, bauchigen Wolken, die den Schnee brachten, auf sie zu rasten.
»In fünf Minuten haben wir den nächsten Schneesturm.« Jon wandte sich besorgt an Pete. »Wohin? Was meinst du?«
»Nach links.« Pete sagte es ohne Zögern. »Du hast gesagt, vom Farmhaus aus sieht man auf die Flußmündung. Wir sind zu weit nach Osten gegangen. Hier sind wir richtig ans Meer gekommen.« Er drehte sich um und stapfte im Windschatten der Düne voran. »Komm schon. Hier unten sind wir ein bißchen geschützt. Gott steh‘ uns bei, wenn das alles runterkommt.«
Es schien Stunden zu dauern, bis sich das Cottage vor ihnen in der Dunkelheit abzeichnete. Mit gegen den Schnee zusammengekniffenen Augen packte Pete Jon am Arm und zeigte darauf. »Da haben wir das Scheißding endlich!«
Jon grinste vor Erleichterung. Endlich. Gott sei Dank. Kate. Die beiden Männer eilten mit neuer Energie weiter, kämpften sich durch die Dünen und durch den schneebedeckten Garten, und immer hörten sie hinter sich das mächtige Donnern des Wassers. Die Flut würde, wie der Wetterbericht gewarnt hatte, stark ansteigen.
Gegen den Wind gestemmt, gingen sie herum zur Vordertür und fanden dort endlich Schutz vor dem Sturm. »Ich bete zu Gott, daß sie da ist.« Die dunklen Fenster gefielen Jon gar nicht. Das Cottage wirkte leer. Schon jetzt war er sich ziemlich sicher, daß sie kein wärmendes Feuer finden würden; niemand zu Hause. Wer konnte es ihr verübeln? Wenn er hier wohnen würde, nur einen Steinwurf von der Nordsee entfernt, und wenn er einen Wetterbericht gehört hätte wie den, den sie heute gesendet hatten, dann hätte er auch auf der Stelle gepackt und wäre von hier verschwunden.
Der Schnee vor der Haustür wirkte unberührt. Kein Zeichen von Fußspuren. Als er die Hand zum Türklopfer hob, kreuzte Jon verstohlen seine eiskalten Finger.
Die Tür sprang auf. Ihm schlug das Herz bis zum Halse. »Sind wir überhaupt richtig hier?« Die Tür hätte verschlossen und verriegelt sein sollen. »Hallo!« rief er. »Kate?«
Schweigen.
Er ging einen Schritt hinein. »Kate, bist du da?« Seine suchenden Finger fanden einen Lichtschalter, und er schaltete ihn mehrere Male an und aus. »Kein Licht.«
Pete war ihm aus dem Wind in die Diele gefolgt. »Schlechte Luft hier drin.« Er sog die Luft ein. »Jemand hat gekotzt.« Er nahm Jons Taschenlampe und leuchtete damit in der Diele umher. »Offenbar keiner da. Ich schätze, deine Freundin ist ausgezogen œ wenigstens für heute nacht.« Er ging weiter, machte eine Tür auf und leuchtete hinein. »Küche.« Er bediente auch hier den Lichtschalter. »Kein Strom.« Dann drehte er sich um und ging zur Tür auf der anderen Seite des Flurs. »Wohnzimmer. Mit einem Holzofen. Den können wir wenigstens anmachen. œ O mein Gott!« Der wandernde Strahl der Taschenlampe war auf das Sofa gefallen.
»Was ist los?« Jon schob sich hinter ihm durch die Tür und schaute ihm über die Schulter. »O Gott!« Beide Männer blieben einen Moment lang wie angewurzelt stehen, den Blick auf die Gestalt unter der Decke auf dem Sofa geheftet. Es war Jon, der zögernd näher trat. Hinter ihm leuchtete Pete in das zerschlagene Gesicht. œ Keine Frage, der Mann war tot.
Jon schloß die Augen, drehte sich um und taumelte aus dem Zimmer. Pete folgte ihm. »Kennst du ihn?«
Jon nickte. »Bill Norcross. Der Freund, von dem ich dir erzählt habe.«
»Scheiße.«
Sie gingen zurück in die Küche, und Jon setzte sich neben die Anrichte, die Hände im Gesicht. »Was zum Teufel ist da drin passiert?«
»Ich würde sagen, man hat ihn zusammengeschlagen. Verflucht nochmal, Jon. Wo ist dein Mädchen? Wo ist ihre Schwester?«
Jon schüttelte den Kopf. Er zitterte plötzlich wie Espenlaub.
Pete legte ihm die Hand auf die Schulter. »Du bleibst hier sitzen. Ich sehe mich weiter um.«
Jon schüttelte den Kopf. »Ich komme mit.«
»Nicht nötig.« Beide Männer dachten dasselbe. Waren Kate und Anne irgendwo dort oben?
»Ich komme trotzdem mit.«
Sie nahmen zwei Stufen auf einmal. Es war Pete, der zuerst die eine Tür aufmachte, dann die andere. Beide Zimmer waren leer. Sie standen in Kates Schlafzimmer und blickten sich angestrengt um. Der Boden war mit Sand und Erde bedeckt, die offenbar hereingeweht worden waren. Das Bett war nicht gemacht. In seiner Mitte waren
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