Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde
Decken auf einen Haufen getürmt, und auch da lag Erde. Das Zimmer war erfüllt von ihrem süßen, modrigen Geruch. Und von etwas anderem. Einem Parfüm. Der überwältigende Duft hatte nichts von dem unangenehmen Geruch durchgelassen, der von unten die Treppe heraufsickerte.
»Niemand hier.« stellte Pete fest. »Ich schätze, sie sind davongekommen.«
Jon setzte sich auf das Bett. Seine Finger liefen über die durcheinandergebrachten Laken, und zwischen den Kissen, unter die sie es vermutlich irgendwann gefaltet gelegt hatte, fand er Kates Nachthemd. Er erkannte es. Es war blau mit heiteren scharlachroten Streifen. Schick. Fast maskulin. Er erinnerte sich daran, wie ihre langen schlanken Beine unter dem unanständig kurzen Saum hervorsahen. Er hielt das Nachthemd an die Brust. O Gott, Kate. Wo war sie? »Was machen wir jetzt?« fragte er mit belegter Stimme.
»Wir gehen und suchen dieses Farmhaus. Es dürfte nicht allzu weit weg sein. Da werden wir sie finden.« Petes Stimme klang stark. Zuversichtlich. Nicht zum erstenmal dankte Jon dem Geschick, das bestimmt hatte, daß gerade dieser Taxifahrer aus Colchester heute nacht bei ihm war.
Nachdem sie die Haustür hinter sich geschlossen hatten, standen sie vor dem Haus und sahen sich um. Es gab keinen Hinweis, in welche Richtung sie gehen sollten. Jeder Weg, den es hier geben mochte, war längst unter dem Schnee verschwunden. Pete leuchtete mit der Taschenlampe im Kreis und wollte sie schon wieder ausschalten, als er die Spuren sah. Fußabdrücke. Frische Fußabdrücke, die nahe bei der Tür vorbeiführten und dann über den Schnee auf das Meer zuliefen.
»Jemand ist hier vorbeigekommen, während wir drin waren«, meinte Pete.
Kate? Anne?
Die beiden Männer wandten ihre Gesichter vom Wind ab und gingen zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren, zurück in die schneebedeckten Dünen.
LXIII
»Wo ist sie?« Roger stürzte ms Wohnzimmer und starrte die am Kamin Schlafenden an. »Wo in Gottes Namen ist sie?«
»Wer, Dad?« Greg streckte sich mit einem Stöhnen. Sie waren schließlich doch alle eingeschlafen, auch Anne, Kate und selbst Paddy. Das Feuer war ausgegangen, und im Kamin lag nur noch kalte Glut. Er zitterte heftig.
»Alison! Wo ist Alison?«
»Ist sie nicht oben?« fragte Greg mit einem Zittern in der Stimme.
Paddy stand als erster auf und streckte sich. »Ich gehe nachschauen.«
Er verschwand durch die Tür zur Treppe. Roger sank in den von Paddy freigemachten Sessel und beugte sich vor. Müde rieb er sich mit den Händen das Gesicht. Er schien in den letzten Stunden um Jahre gealtert zu sein.
Kate blickte besorgt auf seine graue, durchsichtig wirkende Haut. »Soll ich uns Tee kochen?« fragte sie und stand auf. »Wir sollten auch wieder Feuer machen.« Sie ging hinüber zum Fenster und zog den Vorhang zurück. Draußen war es noch dunkel. Es war viel Schnee gefallen, und dem Himmel nach zu urteilen, würde noch mehr nachkommen. Sie hörte, wie der Wind an den Scheiben rüttelte. Etwas weiter weg schlugen die Bäume wütend mit ihren Ästen und schüttelten den Schnee ab, der in Kaskaden zu Boden fiel.
Sie füllte gerade den Kessel, als Paddy zurück ins Zimmer kam. »Sie ist nirgendwo zu finden. Ihre Stiefel und ihre Jacke sind auch weg. Ich kann einfach nicht glauben, daß sie heute nacht unbemerkt an uns vorbeigelaufen ist, aber es muß doch so gewesen sein während wir geschlafen haben. Tut mir leid, Dad.« Er ließ sich geknickt auf das Sofa fallen.
»Tut mir leid!« brüllte Roger. »Tut mir leid! Ist das alles, was du zu sagen hast?«
Nach Paddy war Susie in der Tür erschienen. Ihre Haare waren durcheinander, und ihr Gesicht sah noch vollkommen verschlafen aus. Der große Bluterguß auf ihrer Stirn, der vom Autounfall stammte, war dunkelblau geworden.
»Tut mir leid! Du weißt doch, wo sie hingegangen ist, oder? Gott weiß, wie lange sie schon da draußen ist. Geh raus, Paddy. Schau, ob du Fußabdrücke findest.«
»Draußen?« Paddy sah ihn zweifelnd an. Roger nickte. Paddy verschwand, und alle spürten den Schwall kalter Luft, als er die Haustür öffnete.
»Nichts zu sehen«, rief er von der Diele aus. »Überhaupt keine Fußspuren. Nur Vögel und Kaninchen und ein Fuchs.«
Sie hörten, wie die Tür zugeknallt wurde.
»Das spielt ja auch keine Rolle. Wir wissen alle, wohin sie gegangen ist.« Rogers Gesicht war plötzlich voller Leben, in sein bleiches Gesicht war Farbe gekommen. »An diesen verdammten Strand. Ich
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