Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde

Titel: Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Erskine
Vom Netzwerk:
wenig Musik hören, ein heißes Bad nehmen und früh zu Bett gehen. Morgen würde sie den Tag mit Lord Byron verbringen.

X
    In der Stille der Nacht wanderte die Flut unmerklich den Strand hinauf, um die Landspitze herum und langsam, ganz langsam, in das Stauwasser der Flußmündung. Sie leckte am Schlamm, brachte Stränge von Gräsern und Tang zum Treiben, kräuselte sich um die Zehen schlafender Gänse und Enten, immer weiter ansteigend.
    Der Sand der Düne war trocken, spröde, bröckelig; bereit, auseinanderzufallen. Darunter, jetzt nur noch einen Zentimeter darunter, befand sich der Lehm œ Lehm, undurchlässig gegen Luft und Wasser. Und im Lehm wiederum Torf, Torf, in dem die Überreste von vier menschlichen Körpern lagen.

XI
    Sie hatte mehrere Stunden lang am Computer gesessen und nicht bemerkt, daß es langsam hell wurde. Jetzt, mit Krampfen in Armen und Beinen, im Kopf ein Hämmern wegen der intensiven Konzentration, lehnte Kate sich zurück, nahm die Brille ab, legte sie neben den Computer und starrte aus dem Fenster. Der Nebel hatte sich zurückgezogen und einem Sonnenaufgang von atemberaubender Klarheit das Feld überlassen. Der schmale, V-förmige Streifen Meer, der zwischen den Kieseldämmen von ihrem sorgfältig postierten Tisch aus sichtbar war, glitzerte in blendender Schönheit. Niemand hätte dem widerstehen können; und außerdem brauchte sie eine Pause. Sie zog Jacke, Schal und Stiefel an, öffnete die Haustür und trat hinaus in den eiskalten Wind. Sie blickte sich um und atmete reine Freude tief in sich ein. Das war ein Ort, an dem sich sogar Byron heimisch gefühlt hätte.
    Roll weiter, tiefer dunkler Ozean!

    Zehntausend Flotten ziehn umsonst auf dir davon…
    Der Strand war noch naß von der zurückweichenden Flut, als sie ihn in nördlicher Richtung entlangstapfte, die Zeilen aus Junker Harald murmelnd, den Kopf gegen den stechenden Wind und das grelle Licht gebückt, die Wangen prickelnd unter den peitschenden Haarsträhnen, die sich aus ihrem Schal befreiten. Die Worte paßten natürlich nicht ganz. Das hier war kein Ozean, und das Meer war auch nicht so tief und dunkel, aber wenigstens war es dieselbe Stimmung. Es war berauschend. Sie wollte springen und rennen und tanzen, doch der Kies und der weiche Sand ließen nur einen uneleganten Galopp zu. Schließlich blieb sie erschöpft stehen und machte sich auf den Rückweg. Mit dem Wind und dem grellen Licht im Rücken konnte sie die verschiedenen Farben und Texturen des Wassers auf sich wirken lassen: Wo der Sand bis knapp unter die Oberfläche reichte, war es blaßgrün, sogar gelb. Weiter draußen vermischten sich Strähnen aus dunklem Türkis mit Grau und Schwarz und dem intensiven Saphirblau, in dem Kinder das Meer malen. In der Ferne machten die Kiesel dem matschigen Sand Platz, und am Rande des Wassers konnte sie Strandläufer und Rotschenkel sehen. Außer ihnen schien sie das einzige Lebewesen auf der Erde zu sein.
    Sie befand sich jetzt auf gleicher Höhe mit dem Cottage, nahm befriedigt zur Kenntnis, wie geschützt es hinter den Kieseldämmen war und daß man nur ein schmales Stück von der Vorderseite hinter den wehenden Gräsern und den Sandhaufen sehen konnte. Vor ihr, auf der anderen Seite der Dünen, machte der vom Wasser bedrängte Strand einen Bogen. Von dort führte eine schmale Öffnung in die seichten, schlammigen Gewässer der Redali-Bucht mit ihrem Netz aus kleinen Inseln und von den Gezeiten angelegten Bächen.
    An der letzten Düne blieb sie stehen. Ein Teil davon schien heruntergebrochen zu sein, und in der Mulde auf der dem Meer zugewandten Seite war offenbar kürzlich gegraben worden. Neugierig ging sie darauf zu. Mit ihren Stiefeln fand sie kaum Halt auf der nachgiebigen Mixtur aus Steinen und Schlamm und Sand.
    Aus dem oberen Teil, der vom Cottage aus nicht zu sehen war, hatte jemand fein säuberlich eine horizontale Scheibe entfernt. Auf einer Länge von ungefähr drei und einer Breite von ungefähr einem Meterwaren die ineinandergreifenden Grasflächen stückweise entfernt worden. Darunter hatte man den Sand zu lockeren Haufen aufgeschaufelt. Sie sprang in die Mulde und besah sich die freigelegte Wand der Düne. Die so geschaffene Narbe im Sand sah zu gleichmäßig und ordentlich aus, als daß es sich nur um ein Kinderspiel handeln konnte; und es war sicher auch keine Folge der Flut, obwohl ein Stück weiter, wo verräterischer Tang und verstreute Wellhornmuscheln bezeugten, daß der Ostwind die Flut

Weitere Kostenlose Bücher