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Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde

Titel: Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Erskine
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besonders weit vorgetrieben hatte, der Einschnitt durch einen schlammigen Erdrutsch verlängert und willkürlich vergrößert worden war.
    Fasziniert strich Kate mit der Hand über die Oberfläche des Sandes. Wer hatte hier gegraben, und weshalb? Hatte es etwas mit Schutzmaßnahmen gegen das Meer zu tun? Sie drehte sich um und blickte zurück zum Strand. Die zurückweichende Flut sah jetzt freundlich und wohlwollend aus, aber sie machte sich keine Illusionen über die Wucht, die sich ergab, wenn Wind und Mond richtig standen.
    Sie wollte gerade aus der Mulde klettern und weitergehen, als ihr Blick auf etwas Glänzendes fiel, das aus dem Sand herausragte. Es sah aus wie ein Stück Ton. Sie hob es auf und untersuchte es. Es war dünn, fein, rot, verziert mit einem vorstehenden Muster und sah dem gallischen Geschirr sehr ähnlich, das sie erst gestern im Museum gesehen hatte. Doch das war unmöglich. Sie drehte sich um und begutachtete erneut die Oberfläche des Sandes. Handelte es sich hier um eine Art von Ausgrabung? Fast schuldbewußt schaute sie auf das Tonstück in ihrer Hand. Vielleicht hätte sie es nicht anfassen sollen. Andererseits hatte es im losen Erdreich gelegen und war offensichtlich übersehen worden. Die nächste Flut hätte es begraben, und es wäre vielleicht verlorengegangen. Sie zog den Schal von ihrem Haar, wickelte das Stück sorgfältig ein und steckte es ehrfürchtig in die Tasche, um sich dann umzudrehen und den freigelegten Sand weiter zu untersuchen. Er war sehr bröckelig. Die leiseste Berührung löste eine kleine Lawine aus.
    Nicht weit links von ihr sah sie etwas Dunkles aus dem Erdreich ragen. Vorsichtig faßte sie es an. Metall. Sie kratzte mit den Fingern im Sand und versuchte zu sehen, was es war, ohne es zu weit herauszuziehen. Das enge, gewundene Metallstück ragte rechtwinklig aus dem Sand. Sie mußte die Lindseys fragen. Sie würden wissen, wer hier Ausgrabungen gemacht hatte und warum sie abgebrochen worden waren. Sehnsuchtsvoll beäugte sie das Metallstück. Wenn sie es berührte, und es war von archäologischem Interesse, dann zerstörte sie vielleicht wertvolle Beweise. œ Andererseits konnte es bei der nächsten Flut unwiederbringlich verlorengehen. Als sie so überlegte, erschien in der Spitze der Düne wie von selbst ein kleiner Riß. Sie sah, wie ein Klumpen aus nassem Sand abbrach und ihr vor die Füße fiel. Eine Minute später fiel ein weiteres, etwa fünfzehn Zentimeter langes Stück herunter und riß den Gegenstand aus Metall mit sich. Sie bückte sich und hob es auf. Das Metall, gebogen und verrostet, lag schwer und kalt in ihrer Hand. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, um welches Metall es sich handelte. Bestimmt war es kein Gold. Vielleicht Bronze, oder Silber. Sie untersuchte es voller Aufregung und mit ehrfürchtiger Scheu. Aller Wahrscheinlichkeit nach war sie der erste Mensch seit über tausend Jahren, der es berührte œ vielleicht seit zweitausend Jahren, vielleicht mehr. Es war ein Halsreif.
    MEINE LIEBE
    Die Stimme in ihrem Kopf hatte so laut gesprochen, daß sie sie für real hielt. Sie ließ den Halsreif fallen und sah sich um, die Hände an den Ohren.
    Aber es war niemand zu sehen. Nicht weit von ihr hüpfte ein Austernfischer am Wasserrand entlang und steckte immer aufs neue seinen Schnabel in den Sand.
    Sie hörte ihr Herz in den Ohren hämmern, so wie schon letzte Nacht, im Dunkel des Waldes. Mit einem tiefen Durchatmen bückte sie sich, um das gebogene Metallstück wieder aufzuheben, dann kletterte sie aus der Mulde. Sie blickte sich aufmerksam um, die Hand über die Augen gelegt, um ihr wehendes Haar zurückzuhalten, das jetzt, da sie den Schal abgenommen hatte, lose war. So weit sie sehen konnte, war weit und breit kein Mensch. Die Stimme war in ihrem Kopf.
    Sie machte sich auf den Weg zum Cottage. Reiß dich zusammen, Kennedy. Du bildest dir das alles nur ein, sagte sie streng zu sich selbst. Zu viel frische Luft, das ist alles.
    Die Panik war verflogen, kaum daß sie über sie gekommen war. Hier draußen, am hellichten Tag, bei strahlendem Sonnenschein und im Wind, mit Vögeln, die unbekümmert am Wasser entlang patrouillierten, erschien ihr der eben noch reale Moment des Schreckens absurd; nichts als Einbildung. Ein Museumsbesuch, ihr erwachtes Interesse an Boadicea und den Ereignissen von vor neunzehnhundert Jahren, zusammen mit ihrer isolierten Lage, und schon hatte sie Halluzinationen. Ein starker Kaffee würde das rasch wieder in Ordnung

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