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Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde

Titel: Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Erskine
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entwickeln und ihre jetzige Arbeit behindern.
    Sie schüttelte leicht verärgert den Kopf und betrachtete erneut die Ausstellungsstücke. Wie konnte eine Frau œ eine Frau -, wie verletzt und erniedrigt sie sich auch immer fühlte, das Abschlachten von Frauen, Kindern und Babys anordnen? Was für ein Mensch war sie, diese Königin aus grauer Vorzeit, die ihren Göttern Menschenopfer darbrachte, bevor sie in den Krieg zog?
    Noch in Gedanken, blieb sie vor der Statue eines römischen Bürgers stehen: »MARCUS SEVERUS SECUNDUS, einer der wenigen Überlebenden des durch Boadicea angerichteten Massakers. Beteiligt am Wiederaufbau von Colchester nach dessen Plünderung 60 n. Chr. 72 n. Chr. in hohem Alter gestorben, ehrenvoll bestattet neben seiner Gemahlin Augusta. Ihre Gräber wurden 1986 ausgegraben. Siehe Exponate in Vitrine 14.«
    Das also war der frühere Besitzer von Redall. Sie musterte eindringlich Marcus‘ steinernes Gesicht mit der leicht beschädigten Patriziernase, der kriegerischen Haltung, den sorgfältig gemeißelten Falten seiner Toga, und sie fragte sich, was für ein Mensch er gewesen sein mochte. Er war einer von denen gewesen, die das Massaker überlebt hatten und die zurückgekehrt waren, um wieder von vorne zu beginnen. Sie spürte plötzlich einen neuen Schauder der Erregung. Hatte er Boadicea gesehen? Hätte er die Kriegerkönigin der Icener beschreiben können, mit ihren wallenden roten Haaren, ihren wuchtigen Halsringen, ihrer Rüstung und ihrem Kriegswagen?
    Sie erschrak, als plötzlich eine körperlose Stimme durch die Burg hallte und die baldige Schließung des Museums ankündigte. Sie warf einen letzten Blick auf Marcus. Sie wußte, daß sie zurückkommen würde, um ihn wiederzusehen.

IX
    Er war der jüngste Sohn des verstorbenen Königs. Er war sein Lieblingssohn gewesen und überragte seine Brüder um Hauptes- und Schulterlänge. Seine Freude am Lernen, sein Gedächtnis, sein Geist hatten ihn von Kindheit an zum Studium und zur Weihe bestimmt. Sein Priestertum verlieh ihm Macht. Sein königliches Blut bestimmte ihn für die Vorsehung. Deshalb hatte man ihm Ländereien und Befehlsgewalt übertragen, deshalb bestellte man ihn in Camelodunum zum Ratgeber für die römischen Siedler, obwohl seine Brüder im Westen einen Aufstand anführten. Er trug römische Kleidung; er sprach ihre Sprache; er nahm ihr Wissen und ihre Sitten an. Und er hatte sich in eine ihrer Frauen verliebt. Dennoch haßte er sie und wartete auf seine Stunde.
    Er sah voller Zorn, wie die verhaßten Oberherrn im Herzen von Camelodunum ihren Tempel errichteten: einen Tempel, der Claudius geweiht war; einem Mann, der sich selbst zum Gott ernannt hatte. Aber er behielt seine Ansichten für sich. Eines Tages würde die Zeit reif sein, eines Tages würden die Römer aus dem Land seiner Vorfahren vertrieben werden. An diesem Tag würde er Claudias Ehemann töten und sie in sein Haus nehmen. Doch bis dahin, ganz Diplomat, würde er lächeln.
    Seinen Pflichten als Druide konnte er leicht nachkommen. Er war von königlichem Geblüt, reich, verliebt. Die Götter würden Verständnis haben. Er würde ihnen zu gegebener Zeit dienen, wenn die Glockenblumen verwelkt waren und das Blut langsamer in seinen Adern floß.
    Die alten Priester mißbilligten sein Verhalten. Sie legten die Stirn in Falten und schüttelten die Köpfe, zuerst über ihn, dann über die Zeichen der Götter; der Götter, die die Römer verachteten, weil sie einen Menschen verehrten und ihn zum Gott erhoben.
    Er wußte nicht, daß auch die Götter zornig zu werden begannen.
    Es war fast dunkel, als Kate den Feldweg hinunter zur Scheune fuhr, wo sie ihr Auto wieder neben Dianas Volvo abstellte. Das Farmhaus, sie hatte es sofort und mit einer gewissen Enttäuschung bemerkt, lag in völliger Dunkelheit. Sie hatte es sich bis zu diesem Augenblick nicht eingestanden, wie sehr sie darauf gehofft hatte, hereingebeten zu werden, um es sich bei einer Tasse Tee am Kamin gemütlich zu machen, bevor sie den Weg durch den Wald zum Cottage antrat.
    Auf der Rückfahrt hatte sie einen offenen Bauernladen gefunden, hatte ein wenig Brot und Milch, krümeligen Käse aus der Gegend und Essexhonig sowie, zu ihrer großen Freude, ein paar Feueranzünder und Zündhölzer kaufen können.
    Sie hatte bereits die Plastiktasche über die Schulter geworfen und befand sich auf dem Weg, als sie noch einmal stehenblieb. Sie hatte die Taschenlampe im Auto vergessen. Sie machte kehrt, zog die

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