Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde
flog auf und drehte ab, als sie auf den Kieselbänken erschien und rutschend auf den Sand zulief. Der Strand war noch naß von der Flut und mit Tang übersät. Eine Linie aus Muscheln, weiß, rosa und glänzendglatt im hellen Sonnenlicht, markierte die Linie der höchsten Flut. Die Luft war so kalt, daß sie ihr Tränen in die Augen trieb, als sie nach rechts ging und der Reihe von Dünen folgte, die zur Grabungsstelle führten.
Sie blieb am Rand stehen und sah in die Senke hinunter. Wieder war ein großes Stück der Düne weggebrochen, und sie konnte jetzt im hellen Sand deutlich die verschiedenen Schichten sehen. Es gab fahle Linien aus Lehm, verschiedene Schattierungen von Sand und Kies und jetzt, deutlich sichtbar, eine dicke, schwarze, bröckelnde Schicht Torf.
Ihr Mund war seltsam trocken, als sie halb in die Senke sprang, halb hinunterglitt. Die Gischt hatte eine Ansammlung von Blasentang über deren Boden drapiert. Etwas leuchtend Rotes, halb im Sand vergraben, erregte ihre Aufmerksamkeit, als sie sich alles aus der Nähe betrachtete. Stirnrunzelnd trat sie gegen den heruntergefallenen Sand. Alisons Recorder lag da, unter einem Haufen Tang. Sie bückte sich, um ihn herauszuziehen. Der »On«-Knopf war noch gedrückt. Alison war also heute schon am frühen Morgen hier gewesen und wieder gegangen. Sie stellte den Apparat auf den Rand der Senke und sah sich aufmerksam um. Was konnte passiert sein, das sie dazu brachte, ihren teuren Kassettenrecorder aufzugeben? Es gab keine Spur von den Werkzeugen des Mädchens, aber vielleicht waren sie unter dem Sand begraben worden, der zuletzt heruntergefallen war. Sie ging näher an die Wand heran und zog vorsichtig ihren Handschuh aus. Der Torf war weich, mehrlagig, zusammengedrückt. Als sie ihre Finger zurückzog, roch er nach nasser Gartenerde. Sie schluckte schwer. »Alison?« Der Wind peitschte ihren Schrei hoch, trug ihn aber nicht weiter als ein paar Meter, bevor er sich auflöste und verschwand. »Alison?« Sie schrie lauter. Sie kletterte auf den Rand der Grube, wo sie die Augen mit den Händen gegen das grelle Licht schützte und angestrengt um sich blickte. Der Strand war leer.
Sie drehte sich um. Es stand außer Frage, daß das Kind nicht dort unter dem Sand sein konnte, aber einen Moment lang spielte ihr ihre Phantasie die wildesten Streiche. Sie konnte sehen, wo der Boden weich und locker, wo er heruntergefallen war, und wo, auf dem Boden der Grube, sich ein langgezogener Hügel unter dem Lehm befand. Ein Hügel, der die Form eines Grabes hatte.
Sie starrte darauf. Alison konnte nicht in der Dunkelheit zurückgekommen sein. Sie war im Haus ihrer Freundin in Sicherheit, als Diana letzte Nacht angerufen hatte. Wer auch immer œ was auch immer, verbesserte sie sich rasch œ dort unten lag, es war kein fünfzehnjähriges Schulmädchen aus dem 20. Jahrhundert. Kate ging vorsichtig an den Hügel heran. Wahrscheinlich spielte ihre Phantasie wieder verrückt. Aus einem anderen Blickwinkel war der Hügel nur ein bißchen aufgeschütteter Sand, ein Schatten, den die niedrige Sonne warf. Sie konnte jetzt die Erdhäufchen sehen, die die Würmer aufgeworfen hatten, und die losen Torfstückchen, die aus der Sandklippe gefallen waren.
»Was machen Sie da?« Alisons Stimme, schroff und wütend, brach so schrill in ihre Gedanken ein, daß sie erschrak.
»Gott sei Dank!« Die Worte waren ihr aus dem Mund entwichen, bevor sie sie zurückhalten konnte. »Ich habe gedacht, du hättest einen Unfall gehabt -«
»Sie haben gedacht, ich bin da begraben?« Der verächtliche Ton ihrer Stimme zitterte am Ende ein wenig. Alison trat weißgesichtig hinter der Düne vor. Unter den Augen hatte sie dunkle Ringe.
Kate lächelte. »Nur einen Moment lang. Als ich deinen Recorder gesehen habe.«
Alisons Augen wanderten zum Kassettenrecorder, aber sie machte keine Bewegung darauf zu. »Ich habe ihn vergessen«, sagte sie nach einer kurzen Pause.
»Das sehe ich. Ich fürchte, er war im Sand begraben. Ich glaube, daß die Flut ihn erwischt hat.«
»Warum sind Sie hergekommen?« Alisons Stimme war deutlich weniger aggressiv, als sie so dastand und auf Kate hinunterschaute. Sie hatte immer noch keine Anstalten gemacht, in das Loch zu springen oder ihren Recorder aufzuheben.
»Ich wollte mir da etwas genauer anschauen.« Kate kletterte heraus und stellte sich neben sie. »Die verschiedenen Schichten, die jetzt freigelegt sind. Siehst du? Seit letzte Nacht wieder Sand heruntergefallen ist,
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