Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde
stehen, um sich umzuschauen, während Roger zu seinem Stuhl hinter dem Schreibtisch ging und sich darauf fallen ließ. »Er hat Talent«, sagte er müde. »Das ist keine Entschuldigung, aber vielleicht hilft es uns, ihn ein bißchen zu verstehen.«
Kate ging langsam im Zimmer herum. Sie hatte sich bereits durch die Bilder im Cottage eine Meinung von Gregs Talent gebildet, aber diese Auswahl verstärkte sie um das Zehnfache. Er war wirklich sehr gut. »Wer ist diese Frau?« Neugierig hielt sie ein kleines Porträt hoch. Es war eines von mehreren mit demselben Modell.
Roger zuckte mit den Schultern. »Ich kenne sie nicht. Jedenfalls sind sie alle aus der letzten Zeit.«
Kate musterte sie aufmerksam. Die Frau hatte große, ovale, graue Augen, zu groß für das Gesicht œ in jedem Bild waren es dieselben -, und zu einer Schleife gebundenes, kastanienbraunes Haar. Immer war sie blau gekleidet, aber es waren keine Einzelheiten von dem zu sehen, was sie trug, nur ein verschwommenes Etwas, die Andeutung von Schultern, Armen, nichts weiter. Fröstelnd stellte sie das Bild zurück. »Er ist ein guter Maler.«
Roger nickte. Er lächelte kurz wie ein Verschwörer. »Sagen Sie ihm nicht, daß ich sie Ihnen gezeigt habe. Kommen Sie. Wir fangen schon mal mit den Kartoffeln an, und nach dem Mittagessen bringen wir Sie zurück zum Cottage.«
Sie konnte sich eines beklommenen Gefühls nicht erwehren, als sie die Tür zum Cottage aufsperrte, aber die Anwesenheit von Roger und Diana gab ihr Sicherheit, ebenso die Ankunft des Schlossers zwanzig Minuten später. Während er sich um die Tür kümmerte, halfen ihr die anderen, oben den Abstellraum aufzuräumen und zu putzen.
Roger überprüfte die beiden Fenster. »Wollen Sie, daß er hier auch Schlösser anbringt, wenn er schon einmal da ist?« fragte er skeptisch, als er den Fensterrahmen untersuchte. Im ganzen Haus gab es keinen Hinweis auf ein gewaltsames Eindringen.
Kate zuckte mit den Schultern. »Das scheint mir doch ein bißchen übertrieben -«
»Vielleicht könnte man sie zuschrauben. Das wäre billiger«, meinte Diana. »Ich finde, wir sollten alle nur denkbaren Vorsichtsmaßnahmen ergreifen. Und die Haustür sollte einen größeren Riegel haben und ein Riegelschloß.«
Es war fast dunkel, als sie alle gegangen waren. Kate sah sich um. Seltsamerweise war sie erleichtert, daß sie nun allein war. In der beruhigenden Gewißheit, daß das Haus jetzt unangreifbar war wie Fort Knox, und in dem Bewußtsein, daß ihre eigenartigen Erlebnisse auf irgendeine Weise mit Greg zu tun hatten, hatte sie sich danach gesehnt, daß sie gehen würden; nachdem sie vierundzwanzig Stunden nicht geschrieben hatte, litt sie unter Entzugserscheinungen.
Sie trug eine Tasse Kaffee zum Schreibtisch, setzte sich und zog den Stapel mit bedruckten Seiten zu sich heran. Den Stift in der Hand, begann sie zu lesen.
Draußen war der Wintertag in die kalte, finstere Nacht versunken. Ein- oder zweimal hob sie den Kopf und sah zu den Fenstern, horchend. Sie hatte sich schließlich dagegen entschieden, sie zuschrauben zu lassen. Es erschien ihr so traurig, auf das beruhigende Geräusch des Meeres und die frische Luft verzichten zu sollen.
Im Moment allerdings kam von draußen überhaupt kein Geräusch. Kein Wind, kein Meer. Völlige Stille umhüllte das Cottage, nur unterbrochen vom leisen Brummen ihres Computers und dem Klappern der Tasten unter ihren Fingern. Das schrille Läuten des Telefons aus der Küche ließ sie zusammenfahren.
Es war Jon. Seine Stimme klang wieder hell und freundlich, beiläufig, als hätte er eigentlich keinen Grund, überhaupt von jenseits des Atlantik bei ihr anzurufen. »Wie geht‘s dir?«
»Geht schon«, erwiderte sie. Sie setzte sich auf den hohen Hocker. »Nicht so gut, um ehrlich zu sein. Bei mir ist eingebrochen worden.«
»Das ist doch nicht dein Ernst. O mein Gott, Kate, ist mit dir alles in Ordnung?« Die ehrliche Besorgnis in seiner Stimme ließ sie zum zweiten Mal wünschen, ihm die Neuigkeit nicht erzählt zu haben.
»Ja, es geht mir gut. Sie haben nichts mitgenommen außer -« sie hielt inne, »- weißt du noch, daß ich gerade einen Halsreif saubergemacht hatte, als du das letzte Mal anriefst?«
»Der einem alten Briten gehört?« Seine Worte wirkten unbeschwert, aber sie konnte doch die Sorge in seiner Stimme hören.
»Den haben sie mitgenommen. Und sie haben ein paar Bilder kaputtgeschlagen.«
»Kate, du kannst da nicht bleiben -«
»Nein. Es geht schon
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