Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde
Lidschatten, den sie sorgfältig aufgelegt hatte, bevor sie das Haus verließ.
»Die größte. Die Götter fordern das Blut eines Prinzen.« Seine Stimme klang gelassen. Das Bedürfnis, sie zu beruhigen, gab ihm auf seltsame Weise Mut. »Vielleicht haben wir sie mit unserer Liebe beleidigt, mein Herz«, sagte er zärtlich und berührte dabei ihr Gesicht mit der Fingerspitze, als ob er sich für alle Ewigkeit die Form ihrer Nase, ihres Mundes und ihrer Augen einprägen wollte. » Vielleicht ist es so am besten. Ich hoffe, daß auch deine Götter durch meinen Tod besänftigt und geehrt werden.«
»Nein.« Sie schüttelte mit geschlossenen Augen den Kopf. »Nein. Ich verehre Fortuna. Sie verlangt nicht den Tod ihrer Anhänger. Im Gegenteil. Sie will, daß sie leben und glücklich sind. Nein, ich lasse dich nicht sterben. Wenn du stirbst, dann will auch ich sterben.«
»Nein!« Er nahm sie bei den Schultern und schüttelte sie zärtlich. »Claudia, du mußt leben. Deinem Sohn zuliebe. Du mußt bei ihm bleiben. Und mir zuliebe. Um mein Andenken in deinem Herzen zu tragen. Du mußt stark sein. Du bist eine Tochter Roms, vergiß das nicht.« Das war etwas, worauf sie stolz war, ihre edle Abstammung. Wie er gehofft hatte, erreichte er sie mit diesen Worten.
Sie straffte ihre Schultern und hob den Kopf, obwohl ihr immer noch die Tränen über das Gesicht liefen. »Und du hast keine Angst?«
»Natürlich habe ich keine Angst.« Er lächelte eisern. »Ich bin ein Prinz, und ich bin ein Priester. Warum sollte ich Angst davor haben, meinen Göttern gegenüberzutreten?« Er griff nach der schweren Silberbrosche, die seinen Mantel zusammenhielt. »Ich möchte dir etwas schenken. Trag sie für mich und trauere nicht zu sehr.«
Sie nahm sie mit zitternden Händen und drückte sie an die Lippen. »Wann… Wann ist es soweit?«
»In der Morgendämmerung. Wenn die Sonne sich über dem östlichen Rand der Erde zeigt.«
»Wo -?« Es war kaum ein Flüstern.
»Am heiligen Sumpf.« Er lächelte traurig. »Auf dem Boden, der meinen Vätern und den Vätern meiner Väter gehört hat. Auf dem Platz, an dem die Götter sich versammeln und wo diese und die nächste Welt Seite an Seite existieren.« Er richtete sich auf. »Du mußt jetzt gehen.«
»Noch nicht.« Ihre Stimme hob sich vor Pein.
»Bitte, Claudia Honorata. Ich will dir ohne Tränen Lebewohl sagen. Ich will, daß du voller Ehre, Mut und Stolz bist, wie du es als meine Frau gewesen wärest.« Seine Stimme war streng.
Sie schloß einen Moment lang die Augen und atmete tief. »Wenn du es wünschst, Gatte meines Herzens.« Sie zwang sich zu einem angestrengten Lächeln und hob den Kopf, um ihn auf die Wange zu küssen. Er nahm ihre Hände und drückte sie an seine Lippen, dann drehte er sich um, denn er spürte, daß ihn die Stärke verließ, und lief zu seinem Wagen.
Das Telefon funktionierte noch immer nicht. Dreimal wählte sie die Nummer œ ihre Hand war so verschwitzt, daß sie kaum den Hörer halten konnte -, und dreimal vernahm sie das seltsam hallende Schweigen, davon überzeugt, daß am anderen Ende jemand ihrem schweren Atem lauschte.
»Stimmt etwas nicht?« Alison zitterte.
»Das Telefon scheint nicht zu funktionieren.«
»Sie meinen, wir sind abgeschnitten?« Die Stimme des Mädchens wurde zu einem Quietschen.
»Keine Sorge, Allie. Das macht nichts. Hier bist du sicher. Sicher und warm.« Kate zwang sich, beruhigend zu lächeln. »Ich mache uns jetzt endlich was Heißes zu trinken. Was möchtest du?« Sie sah Alison an, die mit den Schultern zuckte. Kate nahm den Kessel und ging hinüber zum Spülbecken, um Wasser einlaufen zu lassen. Dabei sah sie angestrengt aus dem Fenster. Die Bäume des Waldes, gerade noch sichtbar durch den strömenden Regen, krümmten sich im Sturm. Der Himmel stand voller bräunlicher Wolken, die seltsam dunkel waren. Schnee. Es waren Schneewolken.
Sie drehte den Hahn auf. Im Becken war Sand. Sand und Torf und œ schaudernd riß sie den Kessel weg und schwenkte mit dem strömenden Wasser das Becken aus, um die Maden und die Erde wegzuwaschen. Sie warf einen Blick auf Alison, in der Hoffnung, daß diese nichts gesehen hatte. Das Mädchen hielt die Augen geschlossen und schaukelte auf dem Hocker leicht hin und her.
Mit einer Grimasse füllte Kate den Kessel. »Willst du nicht ins andere Zimmer zum Feuer gehen?« fragte sie freundlich. »Du kannst dich auf das Sofa legen und ein Nickerchen machen.«
»Nein.« Allie schüttelte den Kopf.
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