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Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde

Titel: Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Erskine
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hatte, hinausreichte. Er starrte hinunter auf das, was von Marcus‘ Schädel übrig war. War seine Geschichte dort eingeschrieben, im Abdruck seiner Knochen? Seine Liebe, sein Haß, seine Triumphe, seine Katastrophen? Er hob die Hände und legte sie auf das kalte Glas der Vitrine.
    »Komm schon, du Bastard, spuck‘s aus.« Ohne es selbst zu merken, hatte er diesen Fluch laut vor sich hingesprochen. Eine Frau in der Nähe drehte sich nach ihm um und starrte ihn an. Ihre Blicke trafen sich, doch sie sah rasch weg. Er grinste geistesabwesend, seine Aufmerksamkeit galt bereits wieder Marcus. Dem begüterten, erfolgreichen Marcus, der nach der Niederwerfung Boadiceas sein Glück gemacht hatte; der nach Colchester und nach Redall zurückgekehrt war und Land gekauft hatte. Er verzog das Gesicht œ war es so gewesen? Oder hatte er einfach das Stück Land beschlagnahmt, das er haben wollte? War der frühere Besitzer von Redall beim Aufstand gestorben, oder hatte er alles mit Gewinn verkauft? Er beugte sich näher an das Glas heran, stützte seine Stirn auf und schloß die Augen.
    HASS
    ZORN
    FURCHT WUT
    Als die Emotionen durch ihn hindurchfegten, löschten sie jeden anderen Gedanken in seinem Kopf aus. Sie wirbelten um ihn herum, schimmerten farbig: Rot! Schwarz! Ein bösartiges, gewalttätiges Orange! Er fauchte, schrie, zerriß die Luft. In einem entfernten Teil seines Selbst war er sich bewußt, daß er Schaum in den Mundwinkeln hatte, in seinen Ohren hörte er ein gequältes Heulen, und er wußte, daß es sein eigenes war.
    Dann waren die Geräusche und die Farben und die Schmerzen wieder verschwunden, so schnell, wie sie gekommen waren, und er bemerkte, daß es plötzlich völlig still um ihn herum war.
    Mann Gottes, war er das gewesen? Hatte er wirklich laut aufgeschrien, oder war das alles nur in seinem Kopf geschehen? Das Band in der Nische war an sein Ende gekommen und ein paar Minuten lang still, bevor es zu einer neuerlichen Aufführung der Unterhaltung zweier Römer antrat, während die Horden immer näher rückten. Der Raum hallte wider von Stille und Kälte.
    Das schnelle, besorgte Klappern der Absätze auf dem Boden drängte sich erst in sein schockiertes Entsetzen, als er eine ängstliche Hand auf seinem Arm spürte. »Geht es Ihnen gut? Möchten Sie, daß ich jemanden hole?« Die Frau, die ihn beobachtet hatte, blickte ihm besorgt ins Gesicht. »Ich sah Sie herumtorkeln. Ich dachte, vielleicht -« Sie geriet ins Stocken, als er sie mit leeren Augen anstarrte. »Ich weiß nicht, aber ich habe mich gefragt, ob Sie vielleicht Epileptiker sind oder so…?« Ihre Besorgnis verlor sich, und sie lief dunkelrot an. »Bitte entschuldigen Sie.«
    Er starrte sie dumpf an. »Es geht mir gut. Danke. Es muß die Hitze sein.« Er blickte verwirrt um sich. Der Saal war kalt. Sehr, sehr kalt.
    Sie ging weg, das Gesicht ihm weiterhin zugewandt. Sobald er sie nicht mehr sehen konnte, würde sie in aller Eile nach unten laufen und vielleicht einen der Aufseher heraufschicken. Na gut, sollten sie nur kommen. Sie würden schon sehen, daß er nicht besoffen war. Er war nie nüchterner gewesen.
    Er legte eine Hand auf die Vitrine, zog sie aber schnell wieder zurück, als ob sie ihn gestochen hätte. Was auch immer den Anfall verursacht hatte, es war aus diesem gläsernen Sarg gekommen.

XXVII
    Niemand bewachte ihn. Sie vertrauten ihm vollkommen. Die Götter hatten gesprochen; es stand außer Zweifel, daß er gehorchen würde. Es verblieb ihm nicht mehr viel Zeit, um sich von seinen Lieben zu verabschieden.
    »NEIN!«
    Ihr qualvoller Schrei hallte über die Dünen und Sümpfe, sein Klang hob und senkte sich über Land und Meer, bis er sich in den Wolken hinter dem Horizont verlor.
    »Claudia œ mein Liebes.«
    »Nein! Das lasse ich nicht zu! Was für barbarische Götter betest du an, die so etwas tun können? Du kannst unmöglich zu ihnen zurückgehen. Du darfst nicht! Du darfst nicht…« Sie brach in Tränen aus.
    »Claudia. Ich muß. Die Götter haben mich erwählt.« Seine Stimme war fest, seine Stärke überraschend, auch für ihn selbst.
    »Ich hasse deine Götter!«
    »Das darfst du nicht. Du mußt sie ehren, wie ich es tue. Und gehorchen. Für das Große Opfer erwählt zu werden ist die größte Ehre, die es gibt.«
    »Ehre! Ich habe gedacht, deine Leute opfern ihre Gefangenen! Ihre Sklaven! Was für eine Ehre ist das, zu sterben wie sie?«
    Die Tränen liefen ihr über das Gesicht und verschmierten den safrangelben

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