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Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde

Titel: Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Erskine
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glaube, wir œ sie œ sollte hier nicht allein sein.«
    Sie sah zu, wie er seinen leuchtend gelben Umhang überwarf. Plötzlich wollte sie nicht mehr, daß er ging. Sie wollte ihn am Ärmel festhalten und ihn anschreien, damit er blieb. Sie wollte, daß er sich mit ihnen im Haus verbarrikadierte. Dumme Gans. Wovor fürchtest du dich denn?
    »Sie braucht einen Arzt, Patrick. Es ist halb so schlimm, glaube ich, solange sie sich warm hält, aber ich kenne mich mit solchen Sachen nicht aus. Mir wäre viel wohler, wenn jemand sie sich ansehen würde.«
    Er nickte. »Keine Sorge. Mum war früher Krankenschwester. Sie weiß bestimmt, was zu tun ist. In zehn Minuten bin ich zu Hause. Wenn Greg noch nicht mit dem Land Rover zurück ist, rufen wir Bob Farnborough oben an der Hauptstraße an. Sein Auto hat Vierradantrieb.« Er drehte sich um und ging hinaus in den Schneeregen, dann blieb er stehen. »Es kommt alles in Ordnung, keine Sorge. Schließen Sie nur die Tür ab, und lassen Sie keinen rein.«
    Sie starrte ihn an. Als sich ihre Blicke trafen, wurde ihr klar, daß auch er Angst hatte und daß er genauso gut wie sie wußte, daß Türen Claudia nicht fernhalten würden.

XXVIII
    Am Boden der Senke war der Sand mit Flecken aus Torf durchsetzt, der aus der freigelegten Schicht der Düne her aus gefiltert wurde und sich in den Pfützen aus Eiswasser auflöste. Der Regen und der Hagel trommelten auf die lederne Haut, hielten sie feucht, bewahrten sie für den Moment vor der Luft, machten sie wieder geschmeidig. Lange, kupferrote Haarsträhnen, noch seidig nach mehr als neunzehnhundert Jahren, schlangen sich um das blinde Gesicht, das nach oben in die Dunkelheit starrte. Ihr Arm, der über seiner Brust lag, war verdreht und gebrochen, die Finger ausgestreckt. Als die kalte Luft sie berührte, verloren sie an Steifheit und wurden wieder elastisch, liebkosten seine Schulter. Haut verschmolz mit Haut, Lippen mit Lippen, trockene, zerbrechliche Knochen zerkrümelten und wurden eins mit dem Sand.
    Vom Meer her kam eine Bö, traf die Oberfläche der Düne und wirbelte noch mehr Sand herunter. Die weiche, nasse Mixtur aus Torf und Erde ergoß sich ins eisige Wasser, und langsam versank der silberne Halsreif, aus Nions fleischlosen Fingern gleitend, in Tiefen, in die ihnen kein menschliches Auge folgen konnte.

XXIX
    Bill stand am Fenster, sah hinunter auf die Straße und seufzte. Er haßte London im Regen, und dieser kalte, stürmische Hagel war die schlimmste Art Regen. Er war zu naß, um als Schnee liegenzubleiben, zu kalt im Gesicht, um ihn ertragen zu können, nur dazu geeignet, den Dreck und die Blätter und den Abfall, der in den Rinnstein geblasen wurde, in eine eklige Suppe zu verwandeln. Er konnte hören, wie das Regenwasser den Rinnstein beim Fenster hinuntergurgelte. Es klang wie eine leerlaufende Badewanne, und es war äußerst deprimierend. Er versuchte, sich zu entscheiden, ob er zum Cottage fahren sollte oder nicht. Er hatte sich die ganze Woche auf ein paar freie Tage gefreut. Nach sorgfältigem Umschichten seiner Termine war es ihm gelungen, den ganzen Montag und den halben Dienstag freizubekommen, damit es ein langes Wochenende wurde. Aber jetzt sah das Wetter aus, als täte es sein Bestes, den ganzen Plan zunichte zu machen. Er ging zurück zu seinem Schreibtisch und nahm das Glas Wein von seiner Schreibunterlage œ ein Überbleibsel der gestrigen Party; die Flasche war aus einem Kühlschrank im nächsten Stockwerk gekommen.
    Es lag ganz bei ihm. Er konnte tun, was ihm gefiel. Wollte er sich wirklich die A 12 hinauf quälen und das Risiko eingehen, daß dieser naßkalte Regen zu Schnee wurde, wenn er erst einmal die Vororte von London erreicht hatte? Natürlich war selbst das verlockend. Er konnte sich Schlimmeres vorstellen, als kurz vor Weihnachten in seinem Cottage von der Außenwelt abgeschlossen zu sein, und wenn er genug zu Essen und Trinken mitnahm, würde er liebend gern ein paar Tage von der Bildfläche verschwinden. Er ging zurück zum Fenster, um die Entscheidung mit seinem Gewissen auszufechten. Ab Mittwoch nächster Woche hatte er einer vollen Terminkalender. Bald war Weihnachten, und er konnte es eigentlich nicht riskieren, Zeit zu verlieren. Er beobachtete, wie unter seinem Fenster zwei Londoner Busse nur knapp aneinander vorbeifuhren. Der Eisregen, der für den Bruchteil einer Sekunde nicht schmolz, dann vor seinen Augen zu Wasser wurde und in Strömen an den Fenstern hinunterlief, brachte die

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