Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde
mit letzter Kraft voran, während sie spürte, wie sie auf dem unebenen Sand rutschte und taumelte. Sie würde es schaffen. Sie streckte die Hand aus und hörte, wie hinter ihr auf dem Sand stampfende Schritte immer näher kamen. Sie war zu Hause.
Sie griff nach der Tür und merkte plötzlich, daß jemand im Eingang stand und die Hand nach ihr ausstreckte. Es war Jon. Sie sah sein Lächeln, sah seine Hand, fühlte die leichte Berührung seiner Fingerspitzen, dann stolperte sie. Ihre Hand griff in die dünne Luft, und die Tür begann, sich zu schließen, während sie noch draußen in der Dunkelheit war, allein…
Kate erwachte mit einem Stöhnen, das Gesicht naß von Tränen. Ihr Kopf dröhnte, und ihr Mund war trocken. Sie versuchte, sich aufzusetzen, stöhnte wieder und ließ sich zurück auf das Kissen fallen. Sie wünschte, sie wäre tot. Sie lag mehrere Minuten reglos da, dann wurde ihr bewußt, daß sie würde aufstehen müssen, um zur Toilette zu gehen. Ein wenig schwankend gelang es ihr, sich die Treppe hinunter zu tasten. Die Kälte im Cottage sagte ihr sofort, daß sie vergessen hatte, genug Holz in den Ofen zu schieben.
Nachdem sie sich das Gesicht gewaschen, die Zähne geputzt und die Haare gekämmt hatte, fühlte sie sich nur unwesentlich besser. Sie setzte den Kessel auf und ging dann ins Wohnzimmer. Als sie die Vorhänge zurückzog, sah sie, daß es draußen hell war œ aber nur gerade eben. Vor dem Hintergrund zinnfarbener Wolken fiel von Osten her der Schneeregen in Strömen vom Himmel; sie konnte das Schlagen und Schieben des Windes gegen die kalte FensterScheibe spüren. Sie schaute auf das Fensterbrett. Die Oberfläche war völlig trocken. Es gab keine Spur von etwas, das dort gelauert hätte.
Wieder in der Küche, machte sie sich eine Tasse schwarzen Kaffee. Während sie ihn schlürfte, nahm sie den Telefonhörer ab und horchte. Noch immer kein Freizeichen. Noch immer nichts außer dem seltsamen, interplanetarischen Echo. Sie knallte den Hörer auf und zuckte leicht zusammen, als der Knall in ihrem Arm und in ihrem Schädel widerhallte.
Sie zwang sich, sich anzuziehen, und entschied sich für ein Hemd und einen Pullover, die sie über der Hose trug. Dann zog sie Jacke, Schal und Handschuhe an. Ihre Stiefel standen bei der Haustür. Bevor sie das Haus verließ, zündete sie den Ofen wieder an und ließ ihn in der Hoffnung brennen, bei ihrer Rückkehr ein warmes Cottage vorzufinden. Mit ein bißchen Glück würde sie jemand vom Farmhaus zurückbringen.
Patrick öffnete ihr die Tür. »Hallo.« Seine Miene hellte sich bei ihrem Anblick auf. Er lächelte. »Kommen Sie rein.«
Der Gedanke, daß er sich freute, sie zu sehen, gab ihr ein Gefühl der Wärme. »Wie geht‘s Allie?« Sie folgte ihm in die Diele und zog die Stiefel aus.
»Ganz gut. Alles ist ein bißchen unheimlich, aber sie wird‘s überleben.«
Einen Moment lang fragte sie sich, ob sie ihn bitten sollte, diese dunkle Bemerkung zu erläutern, aber sie überlegte es sich anders. »Patrick, könnte ich wohl euer Telefon benutzen? Meins hat wieder mal den Geist aufgegeben.«
»Klar. Im Arbeitszimmer steht eins.« Er zeigte auf die Tür zu seiner Rechten. »Kommen Sie in die Küche, wenn Sie fertig sind. Dort sind die anderen. Ich sage ihnen, daß sie Ihnen schon mal einen Kaffee einschenken sollen.«
Mit einem dankbaren Lächeln öffnete sie die Tür zu Rogers Arbeitszimmer. Das Telefon stand auf dem Schreibtisch. Sie ging darauf zu und zog dabei die Haare aus dem Wollschal.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Die leise Stimme erschreckte sie fast zu Tode. Sie wirbelte herum. »Greg! Entschuldigung. Ich wußte nicht, daß jemand hier ist.«
»Das dachte ich mir.« Er saß auf der Armlehne eines bequemen, abgenutzten Sessels beim Fenster, in der einen Hand einen Skizzenblock, in der anderen einen Bleistift. Das Licht einer der Wandleuchten fiel auf das blasse Papier. Sein Gesicht lag im Schatten, so daß sie es nicht sehen konnte.
»Ich wollte schnell telefonieren.«
»Aha. Sie trauen uns also nicht, was? Wollten das Museum selbst anrufen, stimmt‘s?« Seine Stimme klang schroff und sarkastisch.
»Nein, wollte ich nicht.« Verärgert sah sie ihn an. »Ich habe doch gesagt, daß ich nichts unternehmen werde, bis wir noch einmal darüber gesprochen haben, und daran halte ich mich. Und außerdem, wenn ich jemanden wegen des Grabes anrufen wollte, würde ich dafür wohl kaum den ganzen Weg hier rüber durch dieses furchtbare Wetter
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