Erst der Sex, dann das Vergnügen: Roman (Piper Taschenbuch) (German Edition)
ein aus dem Nichts aufgetauchter Mutterinstinkt sandte mir klare Befehle: kein Gift! Keine ungesunden Substanzen!
»Weißt du, wie ich mich plötzlich fühle? Als hätte mir jemand einen ›Vorsicht zerbrechlich!‹-Aufkleber aufgeklebt!«, versuchte ich Charlotte meinen inneren Zustand zu beschreiben. »Mir ist auch gar nicht aufgefallen, dass meine Tage überfällig sind – ich hab immer einen Tampon in der Tasche, und wenn sie kommen, dann kommen sie, ich merke mir das nie! Aber was ist denn eigentlich mit Kaffee? Bier? Grüner Tee? Wenn ich an die Abgase an der Prenzlauer Allee denke, wird mir schlecht!«
Charlotte zuckte lässig die Schultern: »Das ist ganz normal. Nestbautrieb und Beschützerinstinkt. Das war bei Marissa auch so, die konnte nicht einmal mehr bei Rot über die Ampel gehen. Unglaublich, dass du noch vor Kurzem geflogen bist.«
Geflogen? Ich? Meine Reise nach Bozen schien mir Monate her, daran wollte ich jetzt nicht denken, war ich doch da wohl gerade den ersten Tag schwanger gewesen. Was heute das Schweizer Babybarometer in Sekundenschnelle lila gefärbt hatte, war noch ein Zellhaufen gewesen.
Ein Zellhaufen, aus dem ein Baby werden würde. Ein Baby, aus dem ein Kind werden würde! Ein neuer Mensch, der für immer eine wichtige Rolle in meinem Leben spielen würde! Hilfe!
»Hilfe!«, hatte ich wohl ziemlich laut gedacht, denn Charlotte sah sich endlich veranlasst, aufzustehen und ihre schwangere Freundin (Mich! Die schwangere Freundin war ich! Hilfe!) in ihre Arme zu nehmen. Sie war einen Kopf größer als ich, und ich vergrub meine Nase in dem glatten Streifenstoff ihrer blau-weißen Bluse mit dem aufgestickten kleinen Polospieler. Sie roch nach etwas Frischem, Zitrus oder Bergamotte, und von ihr umarmt zu werden tat ungeheuer gut. Viel zu schnell trat sie wieder zurück und drehte dabei den Kopf so komisch zur Seite. Weinte auch sie? Charlotte, die kühle Hamburgerin? Ich jedenfalls hatte schon wieder mehr als eine Träne im Auge, während ich ihr zusah, wie sie meinen Mantel von der Garderobe holte.
»Pass mal auf«, sagte Charlotte, immer noch von mir abgewandt, und verbog mir von hinten den Arm, um ihn in einen Ärmel zu stopfen wie bei einem kleinen Kind, »ich würde sagen, dass du einfach mal an die frische Luft gehst. Du hast Glück, dass ich heute einen drehfreien Tag habe und auf den Laden aufpassen kann. Ab mit dir, geh spazieren, ich will dich erst mal nicht wiedersehen. Und diesen Stab hier«, wand sie mir den Teststreifen aus der Hand, den ich seit gestern Abend unablässig festgehalten hatte, in der irrigen Annahme, das Ding würde einsehen, dass es sich geirrt hätte, und der zweite lila Streifen würde ganz von selbst wieder verschwinden, »den lässt du hier. Und denk immer dran: Diese Dinger sind nicht immer sicher. Du sagst selbst, dass du deine Tage nicht besonders regelmäßig bekommst. Freu dich also nicht zu früh.«
Freuen? Ich war derart vor den Kopf geschlagen, dass ich gar nicht hätte sagen können, welches Gefühl dahinter auf mich wartete. Was war das? Freude? Entsetzen? Und vor allem: War das die Panik einer Alleinerziehenden, oder war das die freudige Aufregung einer Frau in einer Beziehung, die es schleunigst zu kitten galt, damit das Würmchen einen Papa haben würde? Einen Papa, den ich nicht anrufen konnte, weil es in Kalifornien neun Stunden früher war und weil Felix sein Handy einfach nicht mehr anschaltete. Ein Baby! Felix, ein Baby!
Mit dieser ungeheuren Neuigkeit im Herzen und der Unfähigkeit, sie loszuwerden, bewegte ich mich in keine bestimmte Richtung. Gehen konnte man meine Art der Fortbewegung sowieso nicht nennen, ich schwebte und schlurfte abwechselnd. Durch den Schleier meiner ziemlich wirren Gedanken und der Tränen, die sich immer wieder nach vorne drängten, sah die Welt irgendwie schwarz-weiß aus, nur manchmal stach ein intensiver Farbfleck durch dieses triste Bild – das Rostrot einer weggeworfenen Currywurstpappe vor der Imbissbude an der Torstraße, das Orange einer Decke auf einem Kaffeehausstuhl an den Hackeschen Höfen. Das Grellgrün der Shampooflaschen in dem Drogeriemarkt, in dem ich mich in der Mamaecke wiederfand. Was hier alles herumstand! Stilleinlagen! Milchpumpen! Brustwarzencreme! Ein ganzes Regal voller Massageöle! Und zwar nicht zur sinnlichen Partnermassage, sondern um den wachsenden Bauch vor Kollateralschäden zu bewahren.
Ich sah an mir hinunter. Nichts. Nur dieses Zwicken und Ziehen im unteren Rücken,
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