Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
Perioden und achtet auf das Wohlbefinden des Lesers. Das Missverständnis allerdings, so war ich überzeugt, besteht darin, dass aus dem Vermeiden von Fehlern noch keine große Literatur entsteht. Große Literatur ist nicht selten gerade deshalb groß, weil sie in ihrem Drang, das Unsägliche sagbar zu machen, willentlich oder unwillentlich das Risiko des Scheiterns eingeht. Ihr Thema ist, um einen Ausdruck von Hans Henny Jahnn zu verwenden, »das Unbekömmliche«, und daraus folgt, dass es ohne Regelverletzungen selten abgeht. Hätte Herman Melville jemals eine Dichterschule besucht, er hätte Moby-Dick oder Mardi oder Pierre niemals geschrieben. Ähnliches gilt für Lawrence Sterne, John Cowper Powys, Robert Musil, Jahnn, Hamsun, Perec und all die anderen oftmals monströsen Heroen der Romankunst.
So also dachte ich, bis ich jüngst mit Juli Zeh ins Gespräch kam. Anlass war das Erscheinen ihres Essaybandes Alles auf dem Rasen , worin sich (unter anderem) freundliche Betrachtungen über das Leipziger Literaturinstitut finden. Wir redeten über mein oben erwähntes Vorurteil, und sie machte mich mit einem äußerst simplen Einwand sprachlos. Warum, so fragte sie, gibt es Kunstakademien und Musikhochschulen? Doch offenbar deshalb, weil man die Technik des Malens und Zeichnens, des Dirigierens und Komponierens lernen kann und, sofern man reüssieren will, auch lernen muss. Weshalb, so fragte sie weiter, soll das fürs literarische Handwerk nicht gelten?
In der Tat. Und wahr ist auch, dass man sein Können am besten an der Meisterschaft der Könner schult. Aber auch an ihren Fehlern. Denn gerade diese Fehler (oder das, was der schulgerechte Kunstverstand für Fehler hält) sind es oft, die aus dem bloß Perfekten das Unerwartete, das Ungeheure hervorgehen lassen. Und da bin ich nun doch wieder bei meinem alten Misstrauen. Ich traue der Vermutung nicht ganz, man könne derlei lernen. Denn zweifellos ist es unmöglich, das Fehlermachen zu lernen. Ziel des Lernens besteht ja eben darin, Fehler zu vermeiden. Nun lässt sich leicht einwenden, dass Fehler sowieso und immerfort entstehen. Das ist leider wahr. Und die häufigsten Fehler sind jene, die bloß ärgerlich sind, bloßes Nichtkönnen verraten, während die grandiosen Fehler naturgemäß selten sind.
Worauf ich hinauswill: Dass es sich wahrscheinlich lohnen würde, sein Augenmerk auf das Scheitern oder zumindest Straucheln der Großen ebenso zu lenken wie auf ihr Gelingen. Was übrigens einen willkommenen psychologischen Effekt haben könnte, denn das Gelingen des Meisters ist oftmals so ernüchternd, dass der Schüler jede Hoffnung aufzugeben geneigt ist, es jenem jemals gleich zu tun. Während er aus dem Straucheln erstens Ermutigung schöpfen könnte und zweitens genauere Erkenntnis über die innere Logik ästhetischer Gebilde. Es ist mir zum Beispiel nie gelungen herauszufinden, ob der Plot von Dostojewskis Dämonen wirklich schlüssig ist, was an meiner unaufmerksamen Lektüre liegen mag. Ohne Zweifel jedoch ist es völlig unklar, wer da eigentlich erzählt. Aus dieser Ungenauigkeit, die man als fehlerhaft betrachten könnte, folgt die alle Sicherheiten auflösende polyfokale, polyvalente Erzählweise. Sie öffnet Zwischenwelten, unheimliche, bedrohliche Räume, wo das Eingebildete, Befürchtete nicht mehr von der schlichten Realität unterschieden werden kann.
Was nun das ästhetische Konzept betrifft, so gibt es Schriftsteller, die einem vorgesetzten Plan mehr oder weniger strikt Genüge tun, und eines der eindrucksvollsten Beispiele ist George Perecs Roman Das Leben. Gebrauchsanweisung , der dem Grundriss und Aufriss eines Pariser Wohnhauses folgt und, von Raum zu Raum springend, das Leben der einzelnen Hausbewohner erzählt. Andere Schriftsteller wiederum mögen eine Idee haben, der sie zunächst folgen, die sich aber im Verlauf des Schreibens nach und nach ändert. Melvilles Pierre scheint mir dafür ein Beispiel zu sein. Man kann vielleicht sogar sagen, dass Melville den Roman geschrieben hat, um diese Idee herauszufinden. Und schließlich gibt es Schriftsteller, die mit einem klaren Vorsatz beginnen, in Wahrheit und am Ende aber etwas schreiben, was diesem Vorsatz zuwiderläuft. Adalbert Stifter und sein Witiko ist ein solcher Fall.
Als Witiko zum ersten Mal auftaucht, erfahren wir von ihm lediglich, dass er ein junger Mann ist, der auf seinem Pferd durch den Wald reitet. Wie er heißt, woher er kommt, wohin er geht, das erfahren wir nicht. Der
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