Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
verwesten Kräften aus, die innerhalb der bestehenden Ordnung keinen Ausweg gefunden haben.«
Soweit ich weiß, pflegte Siegfried Kracauer kein intensiveres Verhältnis zu Freuds Lehre – anders als sein Freund Adorno und die ganze Intellektuellengruppe, aus der dann die Frankfurter Schule hervorging. Doch fällt es auf, dass Kracauer in der zitierten Passage so etwas wie ein Freudsches Deutungsmodell zur Anwendung bringt. Indem er die Angestellten, die tagsüber ihr ereignisarmes Arbeitsleben führen, zu ihrer abendlichen Vergnügungsstätte begleitet, unternimmt er einen Besuch in der Unterwelt. Hier herrscht das Es, hier ist ein Triebgeschehen zu beobachten, das im Tageslicht unsichtbar bleibt. Dabei folgt Kracauer implizit sogar dem Gedankengang, den Freud seit den Studien über Hysterie zurückgelegt hat: Es geht weniger darum, die eingeklemmten Affekte zu befreien – das Arbeitsleben der Angestellten bunter und ereignisreicher zu gestalten -, vielmehr gilt es genau zu beobachten, zu welcher dämonischen Eigendynamik das unterdrückte Triebgeschehen sich entfaltet. In diesem Sinn sind Kracauers Angestellten-Studien in viele Faschismustheorien eingegangen.
Ohne solche Erklärungsmodelle kommt die Textsorte, die uns hier beschäftigt hat, nicht aus. Der entscheidende Schritt ist: rechtzeitig zu erkennen, auf welche Deutungen und Erklärungen man bereits zusteuert. Und das offen zu legen – während sich Kracauer noch als reiner Beobachter wähnte.
Aufgabe
Pierre Bourdieu bemerkt 1965 in Eine illegitime Kunst , seiner Enquête zur Fotografie: »Fotografieren ist etwas, was man während der Ferien tut, und es ist zugleich das, was die Ferien ausmacht. ›Ja, das ist meine Frau, die da die Straße entlanggeht; aber sicher, das war im Urlaub, da haben wir dieses Foto gemacht.‹«
Beschreiben Sie den Soziologie-Studenten, der mit seiner Liebsten und der Kamera Ferien macht und Bourdieus Buch zwecks Pflichtlektüre dabei hat.
JOHN VON DÜFFEL
Der magische Realist
Joseph Conrad: Herz der Finsternis [1902]
Joseph Conrad gehört zu den Autoren, die mir mein Vater empfohlen hat, deswegen habe ich lange Zeit einen Bogen um ihn gemacht. Seine berühmteste Erzählung Herz der Finsternis – Vorbild für so legendäre Filme wie Apocalypse Now von Francis Ford Coppola – habe ich erst vor wenigen Jahren in New York zur Hand genommen. Aus irgendeinem Grund glaubte ich, dass die Zeit reif sei für diese Geschichte, dass sie jetzt in mein Leben passte. Zum größten Teil habe ich sie in der New Yorker U-Bahn gelesen. Vielleicht tut das etwas zur Sache, vielleicht auch nicht.
Was ihre Entstehung angeht, könnte man lange darüber spekulieren, wie viel der Autor von seiner eigenen verhängnisvollen Kongo-Fahrt in dieser Geschichte verarbeitet hat. Joseph Conrad war Seemann, heuerte schon mit achtzehn Jahren bei der französischen Handelsmarine an und wechselte wenig später in die Dienste der Briten. Fast zwanzig Jahre war er auf den Weltmeeren unterwegs, bevor er sich als Schriftsteller in Südengland niederließ. Wie so viele Autoren wurde auch er oft auf das Autobiographische reduziert. Hier ist einer zur See gefahren und schreibt Seefahrer-Romane. Hier hat jemand an vielen Expeditionen in die entlegensten Winkel des Kolonialismus teilgenommen und erzählt davon. Man glaubt diesem Mann seine Geschichten. Aber man vergisst darüber leicht den Schriftsteller Joseph Conrad.
Dabei ist schon allein dieser Autor eine Fiktion. Joseph Conrad ist Pole, mit wirklichem Namen Józef Teodor Konrad Nalecz Korzeniowski, Sohn eines verarmten polnischen Landadeligen mit musischen Neigungen, der als Gutsverwalter versagte und aufgrund seiner patriotischen Pamphlete von den Russen in die Verbannung geschickt wurde. Seine Mutter starb früh an Tuberkulose, sein Vater siechte dahin. Vormund und Mentor wurde sein Onkel, Tadeusz Bobrowski, ein Mann mit festen Grundsätzen und viel Übersicht, der den jungen Józef jedoch nicht halten konnte. Mit siebzehn brach er die Schule ab und verließ das Land, um sich zu erfinden.
In das Bild des autobiographischen Abenteuerschriftstellers passt nicht, dass Joseph Conrad in einer Fremdsprache schrieb, die er erst spät – im Alter von fast zwanzig Jahren – zu sprechen gelernt hat. Jedes Wort in einer solchen Sprache ist eine bewusste Entscheidung, das Ergebnis einer Suche und Auswahl. Nichts ist unbefragte Natur, angeborene, unreflektiert übernommene Rede. Selbstverständlich war Englisch die
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