Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
die Reise in seine Geschichte:
»Freilich war dieser Fleck inzwischen nicht mehr weiß. Er hatte sich seit meiner Jugend mit Flüssen und Seen und Namen gefüllt. Er war zu einem Ort der Finsternis geworden. Doch gab es darin vor allem einen Fluß, einen gewaltig großen Fluß, der einer riesigen, sich aufringelnden Schlange glich, deren Kopf ins Meer tauchte, deren Leib über eine weite Fläche dahinglitt und deren Schwanz sich in den Tiefen des Kontinents verlor. Und als ich mir die Landkarte im Schaufenster eines Ladens betrachtete, faszinierte mich der Fluß, wie eine Schlange einen Vogel fasziniert – einen dummen kleinen Vogel. Dann erinnerte ich mich, daß es einen großen Konzern gab, eine Gesellschaft, die Handel auf diesem Fluß trieb. Zum Kuckuck, dachte ich, die können doch auf diesem Fluß keinen Handel treiben ohne irgendwelche Schiffe – Dampfboote! Warum sollte ich nicht versuchen, den Befehl über solch ein Dampfboot zu erlangen? Ich ging die Fleet Street hinunter und konnte den Gedanken nicht loswerden. Die Schlange hatte mich betört.«
Das ist spannend, aber noch nicht außergewöhnlich. Marlow und sein Autor bauen nach bester Abenteurer-Manier ein Geheimnis, eine Vorahnung und Erwartung auf. Sie wecken Neugier und beschwören gleichzeitig ein Gefühl von Gefahr: Da ist dieser unergründliche Kontinent, da ist dieser schlangengleiche Fluss, bedrohlich und faszinierend, ein Ruf der Finsternis, dem der Erzähler folgt.
Marlow heuert bei der Handelsgesellschaft als Kapitän an und erhält das Kommando über ein Dampfschiff auf dem Kongo – verbunden mit dem Auftrag, ins Innere dieses schwarzen, Elfenbein ausspuckenden Kontinents vorzustoßen. Er wird seinem dunklen Geheimnis, dem Herz der Finsternis immer näher kommen. Das ist die Grundbewegung dieser Erzählung: ein sukzessives Vordringen in das Unfassbare, Unheimliche der Dunkelheit, während sich die vertraute Realität des bisherigen Lebens immer weiter verflüchtigt und auflöst.
Schon auf dem Zubringerschiff, mit dem Marlow die Küste des Kontinents entlang zur Kongo-Mündung schippert, untätig und voller Vorahnungen, stellt sich dieser Realitätsverlust, dieses Gefühl von Unwirklichkeit ein: »Die Müßigkeit eines Passagiers, meine Vereinsamung unter all diesen Männern, mit denen mich nichts verband, das ölige, träge Meer, die gleichförmige Düsternis der Küste – dies alles schien mich von der Wahrheit der Dinge fern- und in einer traurigen und unsinnigen Verblendung festzuhalten. Das Tosen der Brandung, das dann und wann herüberklang, war eine rechte Freude. Es war etwas Natürliches, das seinen Ursprung hatte, seinen Sinn. Eine Weile hatte ich dann das Gefühl, ich gehörte noch zu einer Welt redlicher Tatsachen, doch das Gefühl hielt nicht lange vor.«
Welches Geheimnis verbirgt sich hinter diesem Küstensaum? Was steht Marlow und uns auf dieser Reise in die Finsternis bevor? Die ganze Erzählung steuert auf diesen blinden Fleck, auf ihren schwärzesten Punkt zu. Und je weiter sie fortschreitet, desto bestrickender, zwingender werden ihre Mittel, desto stärker wird ihr Sog.
Die Metapher vom Kongo als Schlange zu Beginn von Marlows Geschichte war noch ein eher schlichter Tiervergleich mit durchschaubarer Absicht: Der Fluss wird zu einem Lebewesen mit einer Seele, einem Charakter stilisiert – ein quasi animistischer Kunstgriff, der sich nicht unbedingt zur Nachahmung empfiehlt. Doch Conrad entwickelt dieses Motiv in geradezu atemberaubender Weise weiter, während Marlow mit seinem Dampfschiff den Kongo hinaufkriecht. Die Metapher hört auf, ein Bild zu sein, und wird Wirklichkeit. Denn dieser Fluss ist etwas Organisches, Leibhaftiges, und der Dschungel an seinen Ufern lebt: »Die hohe Wand des Pflanzenwuchses, eine strotzende und ineinander verflochtene Masse von Stämmen, Ästen, Blättern, Zweigen, Rankenwerk, die da reglos im Mondlicht stand, wirkte wie ein tobender Überfall geräuschlosen Lebens, eine heranrollende Woge aus Pflanzen, hochaufgetürmt und bereit, über das Seitengewässer hereinzubrechen, bereit, jedes von uns kleinen Menschenwesen aus seinem kleinen Dasein zu fegen. Und sie rührte sich nicht.«
Der Urwald an den Ufern des Flusses ist ein Meer, ein Urmeer der anderen Art. Seine Brandung ist die Stille, seine alles verschlingenden Wellen halten inne auf ihrem Scheitelpunkt, und eben darin besteht das Wahnsinnigmachende, dass diese Übermacht nichts tut, dass sie wartet und schweigt.
Auf seinem
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