Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
Verkehrssprache auf den Schiffen, auf denen Conrad arbeitete. Viele seine Erfahrungen hat er in und mit dieser Sprache gemacht. Und möglicherweise hat er irgendwann auch angefangen, in dieser Sprache zu träumen. Doch man darf sich keinen Illusionen darüber hingeben, wie damals auf See gesprochen wurde. Die Währung der Verständigung war eine abgegriffene, sparsame. Sie ähnelte in nichts dem Reichtum und der Tiefe der Beschreibungen, für die Conrad berühmt geworden ist. Diesen Wortschatz im wahrsten Sinne hat er aus Büchern, die er studiert haben muss wie ein literarisches Vokabelheft, um sich die Wörter und Wendungen anzueignen, von denen er glaubte, dass er sie vielleicht einmal brauchen könnte. Es gab für ihn also keinen direkten Weg vom Erleben zum Erzählen, keinen Automatismus von der Hand des Geschehens in den Mund der Geschichte. Um darüber zu schreiben, musste Conrad seine Erfahrungen übersetzen – im doppelten Sinn: Er musste sie in eine fremde Sprache übertragen und diese Fremdsprache zu seiner eigenen machen durch seinen unverwechselbaren literarischen Ton.
Was man von Joseph Conrad grundsätzlich lernen kann, ist dieses doppelte Übersetzen. Im Anfang des Schreibens ist nicht das Wort, sondern der Bruch mit der Sprache als dem Angeborenen, Zugewachsenen. Es ist die Aufkündigung ihrer scheinbaren Selbstverständlichkeit. Jeder, der in seiner Muttersprache schreibt, tut gut daran, sie mit den Augen eines Fremden zu betrachten, sie mit den Ohren eines Reisenden zu hören, der nach Jahren im Ausland wieder zurückkehrt und in den Gewohnheiten, dem Jargon der Gegenwart nicht mehr zu Hause ist. Alles scheint ihm ungewohnt, fragwürdig, zweifelhaft. Sagt man das so? Ist das richtig? Und vor allem: Was will und kann ich damit sagen? Denn die literarische Sprache ist – auch und gerade wenn sie sich der des Alltags wieder annähert – eine Fremdsprache, in der sich nichts von selbst versteht.
Nun könnte man meinen, es handele sich dabei um eine rein sprachliche Transformation, im Grunde aber bleibe der Unterschied zwischen zwei Arten von Autoren: den Erlebnisschriftstellern und den Erfindern. Die einen schreiben von ihren Erfahrungen, die anderen schreiben Fiktion. Diese Ansicht ist so weitverbreitet wie falsch. Um eine Geschichte zu erzählen, muss man sie erfinden, ob man sie nun selbst erlebt hat oder nicht. Fiktion ist nicht das Gegenteil von Erfahrung, sondern ihr Medium. Sie ist der Kristallisationsraum, der Spiegel nicht nur der Oberfläche, sondern des inneren Wesens der Dinge. Und als dieses Medium hat jede Fiktion ihre eigenen Gesetze, gegen die man nicht mit dem Argument verstoßen kann, »so war es aber in Wirklichkeit, so hat es sich tatsächlich zugetragen«. Eine wahre Geschichte ist nicht per se eine gute Geschichte. Wahrheit oder – weniger pathetisch – Glaubwürdigkeit im Erzählen ist etwas anderes als die Wahrheit der Tatsachen. Denn beim Erzählen hören die Dinge und Ereignisse auf zu sein und fangen an, etwas zu bedeuten.
Fiktion ist ein Spielfeld, ein Möglichkeitsraum von Erfahrung, eine Erweiterung der Wirklichkeit um das, was in ihr steckt. Es geht beim Erzählen immer um Erfahrung und ihre Vermittlung, aber in einer freien, nicht an Tatsachen gebundenen Form, die es erlaubt, zum Wesen einer Sache vorzudringen. Es geht – wie Conrad vielleicht sagen würde – um das »dunkle Herz« der Dinge.
In diesem Sinne lese ich seine Erzählung Herz der Finsternis – nicht als Abenteuer-Novelle oder Erfahrungsbericht eines Weitgereisten, sondern als ein Meisterwerk der Fiktion, das eine Erfahrung in etwas Wesentliches, Bedeutsames verwandelt: in sich selbst.
»Als kleiner Junge hatte ich eine große Passion für Landkarten. Stundenlang konnte ich Südamerika, Afrika oder Australien betrachten und mich in den Herrlichkeiten des Entdeckerlebens verlieren. Zu jener Zeit gab es noch viele weiße Flecken auf der Landkarte, und wenn ich einen erblickte, zeigte ich mit dem Finger darauf und sagte: ›Wenn ich einmal groß bin, gehe ich dorthin!‹ Und es gab einen – den größten, weißesten sozusagen -, nach dem ich mich besonders sehnte.«
Es ist nicht Joseph Conrad, sondern sein Erzähler Marlow, der so spricht. Der alte Seemann sitzt in Gesellschaft einiger Freunde an Bord eines Schiffes, das nahe der Themse-Mündung vor Anker liegt, und wartet auf die Flut zum Auslaufen. Die Nacht bricht herein. Und während es immer dunkler wird, nimmt Marlow seine Zuhörer mit auf
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