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Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Titel: Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kutzmutz
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Weg flussaufwärts hört Marlow immer wieder den Namen eines geheimnisvollen Mannes, Herrscher über eine Station im Innern des Kontinents. Er hört von seiner Begabung, seiner Macht, von großen Mengen Elfenbein und von der Gefahr, die ihm durch seine Neider und Widersacher droht. Die Rede ist von Mr. Kurtz. Marlow spricht seinen Namen aus und beschwört im selben Atemzug seine Zuhörer: »Er war nur ein Wort für mich. Ich sah den Mann, der sich hinter diesem Namen verbarg, damals ebensowenig wie ihr jetzt. Seht ihr ihn? Seht ihr die Sache vor euch? Seht ihr irgend etwas? Mir kommt es vor, als versuchte ich, euch einen Traum zu erzählen – eine vergebliche Anstrengung, denn keine Nacherzählung eines Traums vermag die Traumempfindung zu vermitteln: jene Mischung aus Ungereimtheit, Überraschung und Bestürzung in einer Aufwallung hilfloser Empörung, jene Vorstellung, vom Unfaßlichen eingefangen zu sein, was das Wesen eines Traumes ausmacht.«
    Das ist das Wesen des Erzählens. Denn es geht Marlow nicht darum, sich mit Worten verständlich zu machen, es geht ihm um die Empfindung, um das Vermitteln einer Erfahrung in ihrer sinnlichsten, dichtesten, unausweichlichsten Form. Er will keinen Reisebericht abliefern, sondern eine Emotion übertragen und seine Zuhörer mit auf diese Reise nehmen, um ihnen das Herz der Finsternis zu erschließen. Eine »Nacherzählung« reicht da nicht aus. Es braucht die Fiktion als Erfahrungsraum.
    Vor dieser erzählerischen Herausforderung resigniert Marlow scheinbar: »Nein, es ist unmöglich, anderen das Lebensgefühl unseres eigenen Daseins zu einer bestimmten Zeit zu vermitteln – das, was deren Wahrheit, deren Sinn ausmacht -, deren zartes und durchdringendes Wesen. Es ist unmöglich. Wir leben, wie wir träumen – allein …«
    Dieses bittere Fazit endet mit einem der berühmtesten Sätze der Literaturgeschichte. Und doch ist es indirekt eine Poetik der Hoffnung, denn Marlow bricht seine Geschichte eben nicht ab, er erzählt weiter und versucht das Unmögliche, das Wunder der Fiktion, seine Zuhörer in den Bann seines einsamen Traumes hineinzuziehen, sie teilhaben zu lassen an einer Erfahrung jenseits der eigenen fest umgrenzten Realität.
    Nicht zuletzt wegen dieser Passagen wurde Conrad vielfach dem »literarischen Impressionismus« zugerechnet. In seinen Beschreibungen mischen sich subjektive Eindrücke und Stimmungen mit den Dingen und Ereignissen der Außenwelt, verbinden sich Wahrnehmung und Wirklichkeit zu einer beklemmenden Atmosphäre der Angst. Oft genug lässt Conrad seinen Erzähler selbst von der Unwirklichkeit und dem Traumcharakter seiner Reise sprechen. Doch es wäre eine extreme Verkürzung, würde man diese Reise »ins Innere« mit einem Drogentrip gleichsetzen. Das Besondere an Conrads Erzählweise besteht gerade darin, dass er den Anspruch, die Dinge so zu beschreiben, wie sie wirklich sind, niemals aufgibt, auch wenn er sie von ihrer alptraumhaftesten, abgründigsten Seite zeigt. Conrad ist ein realistischer Erzähler, doch die Realität, von der er schreibt, ist ohne seinen speziellen Blick, ohne die Unschärfe zwischen Subjekt und Objekt nicht erfahrbar. Im Verlauf seiner Geschichte geraten die Grenzen zwischen dem Selbst und den Dingen ins Fließen. Und in demselben Maße, in dem sich Marlows Befindlichkeit in die Schilderungen des Dschungels mischt, dringt die Wildnis in ihn und seine Seele ein. Es ist diese Erfahrung der Grenzüberschreitung, die Conrad zu vermitteln versucht, auf der Schwelle zwischen Zivilisation und Barbarei, zwischen Ordnung und Chaos, Leben und Tod, Wahn und Wirklichkeit. Doch um das in Worte zu fassen, braucht es einen magischen Realisten, der die dunkle Seite des Seins beschreibt – nicht, wie sie ihm vorkommt, sondern wie sie ist.
    Als Marlow auf seiner Fahrt in die Finsternis Mr. Kurtz schließlich findet, liegt dieser düstere wie erleuchtete Herrscher im Sterben – ein Wrack, ein bizarrer Schatten seiner selbst, dem Wahnsinn ebenso nah wie der Offenbarung. Kurtz gebärdet sich grausamer als jeder Häuptling und spricht gebildeter, beredter als jeder Kolonialherr, eine Mischung von Europa und Afrika, das Schlimmste und Beste von beidem, wild und weise, zerstörerisch und empfindsam, Dämon und höheres Wesen in einer Person: »Das Schreckliche war, daß ich es mit einem Menschen zu tun hatte, an den ich weder im Namen von etwas Hohem noch von etwas Niedrigem appellieren konnte. Es gab nichts über, nichts unter ihm, und

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