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Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Titel: Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kutzmutz
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dieser Sammlung den Roman Die grünen Fensterläden betrachten, geschrieben im Januar 1950 in Kalifornien. (Simenon liebt Titel, die in ihrer Einfachheit nur manchmal poetisch geraten, hier eher nicht.) Ich habe ihn nahezu aufs Geratewohl ausgesucht; alles, was ich an ihm darlegen werde, ließe sich ähnlich an fast jedem anderen Simenon herleiten.
    Worum geht es? Die Hauptfigur des Romans ist Maugin, ein alternder Schauspieler, einst groß, von seinem Ruhm zehrend und dem Trunk verfallen. Er lebt, umgeben von Erinnerungen und mehr oder weniger nahestehenden Menschen, auf sein Ende zu. Das Buch endet wenig überraschend mit seinem Tod.
    Bereits im ersten Kapitel tut Simenon etwas, wovon man Nachwuchsautoren aus gutem Grund dringend abrät – er geht schon auf der zweiten Seite in eine lange Rückblende.
    Auch hier stört sie. Auch hier hemmt sie den Lesefluss, sie macht den Einstieg schwierig, obwohl sie letztendlich einigermaßen funktioniert und sogar entschuldbar ist: Maugin ist beim Arzt, einem Prominentenarzt, der ihn abends, außerhalb der normalen Sprechstunde, empfängt, um sein Herz zu untersuchen. Es ist dunkel, Maugin muss in einer Stellung, die ihm unangenehm ist, vor dem Röntgengerät verharren – es ist fast unvermeidlich, sich in einer solchen Situation in Erinnerungen zu verlieren, ja, zu flüchten. Dass es größtenteils belanglose Erinnerungen sind, passt ebenfalls.
    »Nach dem Lehrbuch« hätte der Autor diese frühe Rückblende vermeiden müssen, und das wäre auch problemlos machbar gewesen. Doch erstaunlicherweise hätte die Szene dadurch an Eindringlichkeit verloren: Warum?
    Ich denke, dass die vielgerühmte Atmosphäre in Simenons Prosa und seine Arbeitsgewohnheiten nicht voneinander zu trennen sind – das eine hat mit dem anderen zu tun. Lesen wir das erste Kapitel und stellen wir uns dabei den Autor Georges Simenon vor. Hier nimmt er das erste Mal schreibend Kontakt auf mit der Figur, die er bis jetzt nur erdacht hat. Er versinkt in ihr. Simenon verschwindet, er wird zu Maugin. Und Maugin betritt die Bühne als ein alter Mann, der sich widerwillig einer Untersuchung seines Herzens unterzieht.
    In diesem Fall konnte Simenon auf persönliche Erfahrung zurückgreifen: Zwei Jahre zuvor, im Jahr 1948, hatte ihm ein Arzt aufgrund eines falsch beurteilten Röntgenbildes einen baldigen Tod prophezeit – eine Fehldiagnose; Simenon sollte noch 41 Jahre zu leben haben. Doch mit dem Schluss, die Intensität des Textes rühre aus persönlicher Erfahrung, macht man es sich zu einfach. In anderen Romanen schildert Simenon mit genau der gleichen Kraft durch die Welt irrende Revoluzzer, stumpfsinnige Mörder und geldgierige Witwen, Schicksale also, die er allenfalls aus Beobachtung kennen konnte, nicht aber aus eigener Erfahrung.
    Verwerfen wir diese Theorie also und kehren wir zurück zu dem Bild eines Autors, der sich in seine Hauptfigur versenkt, so weit es irgend geht. Die reale Welt ringsum verschwindet, da ist nur diese Figur und das, was sie erlebt: Er hält sich nicht damit auf, zu schildern, was selbstverständlich ist oder üblich oder normal. Er sucht die Konzentration auf ein Detail, eine Wahrnehmung, einen Gedanken – auf das unverwechselbare Eine, das ganz diese Figur in diesem Augenblick ist, das sie kennzeichnet. Und dieses Detail, diese Wahrnehmung, diesen Gedanken erforscht er dann, kostet ihn aus, lotet an ihm entlang in die Tiefe und lässt sich davon zu allem weiteren führen.
    Hier ist sie: die Dunkelheit. Maugin muss im Dunkeln stehen, des Röntgenapparates wegen. Und das, was ihn beschäftigt, ist eben diese Dunkelheit. Sie ist nicht einfach dunkel, sie erinnert ihn an seine schlimme Kindheit, und diese Erinnerungen sind beklemmend. Wenn Maugin von hier aus nun in Erinnerungen banalerer Art abschweift – die Herfahrt, wie er seinen Chauffeur fortgeschickt hat, wie er noch zwei Gläser Rotwein in einer Kneipe hinabstürzt, ehe er das Haus des Arztes betritt -, dann liegt eine ganz andere Kraft dahinter, eben jene Kraft, die die Szene trotz allem trägt.
    Bis jetzt ist das alles nur eine Beobachtung von jener Sorte, die sich im Nachhinein leicht anstellen lässt. Die entscheidende Frage ist aber: Wie kommt der Autor überhaupt auf die Idee, es so zu machen?
    Die Antwort darauf lautet: Es hat sich so ergeben. Simenon hat sich das nicht überlegt – und zwar, weil es ihn überhaupt nicht interessierte, irgendetwas in der Außenwelt zu beschreiben. Ihn interessierte nur, wie es in

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