Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
seiner Figur aussah. Er suchte nach einer Szene, nach der Szene, mit der sie uns auf unverwechselbare Weise vor Augen tritt. Und alles Weitere hat sich dann daraus ergeben.
Es gibt diesen oft gehörten Satz, eine gute Geschichte ergebe sich aus den Figuren und ihrem Charakter. Simenon treibt diese Maxime weiter als sonst jemand. Wann immer er die Umwelt schildert, ist diese Schilderung konsequent durch die Perspektive seiner Figur gebrochen. Ihn interessiert nur, was auch diese Figur interessiert. Ja, er nimmt überhaupt nur das wahr, was auch seine Figur wahrnimmt. Und er nimmt es so wahr, wie es dieser Figur erscheint. Objektivität interessiert Simenon nicht die Bohne. Er ist radikal subjektiv, so radikal, dass er selbst die Idee, es könne einen objektiven Standpunkt geben, zu vergessen scheint. Die vielgerühmte Atmosphäre ist das Ergebnis dieser extremen Haltung: Keine objektive Eigenschaft einer Umwelt, sondern das Spiegelbild der Befindlichkeit der Perspektivfigur.
Dasselbe ist auf der Ebene der Szenen zu beobachten. Analysiert man einen Roman von Simenon daraufhin, fällt auf, dass jede Szene in der einen oder anderen Weise eine Konfrontation zwischen zwei Figuren ist, in der Regel zwischen der Hauptfigur und einer anderen. In dieser Konfrontation lotet der Autor seine Hauptfigur aus. Nichts ist objektiv, alles subjektiv. Die Figur hört, was sie zu hören glaubt; nimmt die Reaktionen und Antworten so wahr, wie es ihrer Gefühlslage, ihrem Denken, ihrem Geisteszustand entspricht. Wir können nichts Verlässliches über die anderen Figuren sagen, denn wir erleben sie nur interpretiert durch die Perspektivfigur.
Im ersten Kapitel von Die grünen Fensterläden wird nicht einfach eine Untersuchung bei einem Arzt geschildert; es ist eine Konfrontation Maugin versus Doktor Biguet. Eine kleine Konfrontation, beinahe unmerklich, wenn man nicht darauf achtet: Maugin weiß, dass Biguet aus einfachen Verhältnissen stammt, genau wie er selbst, er sucht nach Ähnlichkeiten, nach Unterschieden und beißt sich fest in dem anderen. Danach geht er noch einmal in eine Kneipe, um noch einmal zwei Gläser Rotwein zu kippen, und dort ist es der Wirt, in den er sich in Gedanken verbeißt: Ohne ihn zu kennen, unterstellt Maugin ihm, dass er verächtlich über ihn reden wird, sobald er die Kneipe verlassen hat – ein Spiegel dessen, dass tatsächlich er selbst es ist, der sich für seine Trunksucht verachtet.
In den nächsten Kapiteln ist in die Schilderung von Maugins Alltag am Theater eine Begegnung mit seinem unehelichen Sohn eingewoben, der ihn, wieder einmal, um Geld angeht. Hier nun ist das Level der Konfrontation schon etwas höher geschraubt. Es gibt Widerworte, Maugin fährt den Jungen schroff an, verliert sich immer wieder in unangenehmen Erinnerungen, hadert in Gedanken mit der Mutter des Jungen. Und so geht es weiter – in jedem Kapitel steigt der Grad der Konfrontation, bis hin zum Finale.
Doch dass man Simenons Romane so analysieren kann, heißt nicht zwangsläufig, dass sie auch so konzipiert wurden. Im Gegenteil. Oft hat man das Gefühl, dass Simenon die Geschichte nicht besonders interessiert – nur die Figur. Er erforscht sie, geht konsequent mit ihr mit, schlüpft in ihre Haut, ihr Leben, ihren Geist und lebt sie. Und alles andere lässt er sich daraus ergeben, ohne vorgefassten Plan, und wenn die Handlung seltsame Kurven nimmt, stört ihn das nicht weiter.
Die Geschlossenheit seiner Romane rührt daher, dass er eben keinen Plan hat, dass er ohne bestimmtes Ziel schreibt, die Dinge sich auseinander entwickeln lässt, zwangsläufig und folgerichtig. Er muss seine Figur nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt von A nach B bringen, nur weil ein Konzept das so vorsieht. Nein, er beobachtet sie einfach an Punkt A, schlüpft in sie hinein und versucht herauszufinden, wohin sie eigentlich will. Vielleicht nach C? Auch in Ordnung. Es wird sich schon etwas ergeben. Auf diese Weise kann Simenon in der Haltung radikaler Subjektivität bleiben, denn es gibt keinen vorgeplanten Weg, von dem er abkommen könnte. Er bleibt bei seiner Figur und vertraut darauf, dass sich ein Ende irgendwie finden wird. Und es findet sich auch jedes Mal.
Das ist natürlich äußerst gewagt und nur dank Simenons enormer Erfahrung im Schreiben in dieser Form durchführbar. »Don’t try this at home« ist man versucht zu sagen. Doch natürlich kann man das versuchen, man soll es sogar – aber man sollte es besser erst insgeheim tun und
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