Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
Ernest Hemingway, und die ersten stories , die ich von ihm las, waren stories über das Leben des jungen Nick Adams und über all das, was der junge Nick Adams von seinem Vater lernte, als er an seiner Seite die Wälder und Seen seiner Heimat durchstreifte.
II.
Die beiden Rororo-Taschenbücher mit Hemingway-Stories, die mein Vater mir in den sechziger Jahren schenkte, habe ich heute noch. Sie heißen In unserer Zeit und Der Sieger geht leer aus und enthalten, wie bereits auf dem Cover groß vermerkt ist, fünfzehn bzw. vierzehn » stories « aus einer anscheinend abenteuerlichen Fremde. Die Fremde ist auf dem einen Cover in Form eines Indianerkopfschmucks vor hellgrünem Grund, aus dem anderen aber in Form einer weißen Flugmöve vor hellblauem Grund vertreten. Durch ihre Aufmachung geben die beiden Bücher zu erkennen, daß man sie als Zwillinge verstehen soll, die aus ein und derselben Werkstatt stammen: Aus der Werkstatt Ernest Hemingways, des »Nobelpreisträgers«, wie ebenfalls auf dem Cover gleich unterhalb des groß gedruckten Autoren-Namens deutlich vermerkt ist. Noch heute wirkt die Aufmachung der beiden Bücher zwittrig: Zum einen werden sie überdeutlich wie typische Jugendbücher mit spannenden Geschichten aus dem amerikanischen Westen präsentiert, zum einen sind sie voller Ehrfurcht gebietender Winke und Zeichen, die den Autor als einen der ganz großen Erzähler, ja bereits als Klassiker vorstellen. Beide Momente verfehlten bei mir nicht ihre Wirkung, signalisierten sie mir doch, daß Hemingways stories anscheinend sowohl spannende wie auch lehrreiche Geschichten waren und damit sowohl meine eigenen Ansprüche an Literatur wie auch die meines Vaters auf beinahe ideale Weise erfüllten.
Als ich dann aber stories wie Indianerlager oder Großer doppelherziger Strom I und Großer doppelherziger Strom II gelesen hatte, wußte ich, daß Hemingways stories mit alldem, was ich bisher gelesen hatte, nicht zu vergleichen waren. Die meisten dieser Geschichten spielten zwar in der freien und wilden Natur und waren voller genauer Beobachtungen, sie waren aber auf eine ganz andere Weise spannend, als ich es bisher kannte. Bisher nämlich war Spannung ein Mitfiebern mit der Handlung einer Geschichte gewesen, jetzt aber gab es eine Spannung, die eher kalt als heiß war und die dazu führte, daß man von einer Geschichte in atemlos machender Weise gebannt war, ohne daß man mit der Handlung oder bestimmten Figuren pausenlos mitgefiebert hätte. Nicht die Handlung oder die Figuren waren die Spannungsträger, sondern etwas anderes, Fremdes, das offensichtlich nicht mit dem Inhalt der Geschichte, sondern mit dem Erzähler zu tun hatte. Statt auf den Inhalt der Geschichten zu achten und der Handlung zu folgen, achtete ich nun plötzlich auf den Erzähler und sein Erzählen und damit auf einen bestimmten Ton und eine besondere Stimme. Nicht nur was der Erzähler erzählte, war von Bedeutung, sondern viel mehr noch, wie er erzählte: Knapp, schweigsam, ohne sich irgendwo lange aufzuhalten, geradezu versessen darauf, die Ereignisse nicht auszuerzählen und langatmig zu schildern, sondern sie so zu skizzieren, daß der Leser höchstens ein paar Anhaltspunkte oder Hinweise erhielt und sie dann mit Hilfe der eigenen Phantasie zu Ende erzählen konnte.
Heute fallen mir zwei Gründe ein, die mir die große Wirkung, die Hemingways Erzählen damals auf mich ausübte, erklären. Zum einen erzählte Hemingway so, wie mein Vater gerne erzählt hätte, wenn er hätte erzählen können. Hemingways Knappheit und seine oft gepriesene Lakonie – damals, in meinen Jugendjahren, erlebte ich sie gleichsam als die Übersetzung aller väterlichen Ideale vom präzisen, detailreichen Erzählen in Kunst. Kunst war die Perfektionierung dieser Ideale, Kunst war die Fähigkeit, mit äußerster Zurückhaltung eine vollkommene Balance zwischen spannenden Inhalten und konkretem Sachwissen herzustellen. Darüber hinaus aber wirkten Hemingways stories so stark, weil sie eben nicht nur von dem jungen Nick Adams und seinem Vater, sondern beinahe Wort für Wort auch von meinem Vater und mir erzählten. Daß Nick Adams’ Vater kein Landvermesser war wie mein Vater, sondern ein Doktor und Arzt, und daß die Geschichten nicht im Westerwald oder auf unseren Reisen, sondern im fernen Amerika spielten – das alles störte mich nicht. Wichtiger war, daß zwischen Nick Adams und seinem Vater genau dieselbe Vertrautheit herrschte wie zwischen meinem Vater und
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