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Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Titel: Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kutzmutz
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Gedichte. Neben der Musikalität Koeppens faszinierte mich natürlich auch der Stoff. Der junge Mann aus der Provinz, der hinaus will in die Welt, die vor allem eine Welt der Sprache und der Literatur ist. Der junge Mann aus der Provinz, der bereits als kleiner Junge an seine Tür ein Schild gehängt hatte, auf dem zu lesen stand: »Herr Tod, Literat«.
    So stellte ich mir einen Schriftsteller vor: aufbruchsbereit und todesbewusst. Später kam noch das Wissen um seine Biographie und sein sogenanntes Schweigen hinzu. Koeppens Schweigen interessierte mich. Auch wenn es möglicherweise eine Erfindung des Feuilletons war. Immerhin hatte er ja sowohl in den dreißiger wie auch in den fünfziger Jahren mehrere Romane, außerdem Reisebücher, Essays, Artikel und anderes geschrieben. Koeppens frühe Romane sah ich in den siebziger Jahren als suhrkamp taschenbücher in den Buchhandlungen, und sie kamen mir wie Neuerscheinungen vor. Jugend war ja auch eine Neuerscheinung. Und trotzdem schwieg Koeppen, wenn man den Zeitungen glauben wollte.
    Ich habe später über Koeppen gearbeitet, wie man so sagt, und am Ende sogar meine Doktorarbeit über ihn geschrieben. Und dabei gelernt, dass Koeppen sowohl geschrieben als auch geschwiegen, das heißt: eine ganze Reihe von Romanen wohl geplant, aber nicht geschrieben hat. Wer wollte, könnte eine eigene Bibliographie von Koeppens nichtgeschriebenen Romanen zusammenstellen, darunter so bedeutende nichtgeschriebene Romane wie In Staub mit allen Feinden Brandenburgs oder auch Ein Maskenball . Der bedeutendste von Koeppens nichtgeschriebenen Romanen hat allerdings keinen Titel und wird in die Literaturgeschichte nur unter dem Namen Der große Roman eingehen.
    Im Unterschied zu Wolfgang Koeppen hat Peter Weiss seinen großen Roman sehr wohl geschrieben. Gemeint ist Die Ästhetik des Widerstands , deren erster Band im gleichen Jahr wie Koeppens Jugend erschien und von uns Germanistikstudenten und einigen Professoren, meinen Doktorvater eingeschlossen, heißhungrig aufgenommen und unmittelbar in Studium, Lehre und Forschung überführt worden ist. Die Ästhetik des Widerstands war ein Buch, vor dem ein Mensch wie ich mit meinem wohl drängenden, aber noch gehemmten und unausgegorenen Schreibwunsch geradezu in die Knie gegangen ist. Vor allem vor dem Anfang der Ästhetik des Widerstands war ich in die Knie gegangen, und ich versage es mir nur unter größten Anstrengungen, diesen Anfang, eine Beschreibung des Pergamonaltars, hier seitenlang zu zitieren: »Rings um uns hoben sich die Leiber aus dem Stein, zusammengedrängt zu Gruppen, ineinander verschlungen oder zu Fragmenten zersprengt …«
    Die Ästhetik des Widerstands war ein Monumentalroman, dem man in gewisser Weise nur akademisch beikommen konnte oder aber in Lesegruppen, um nicht zu sagen Lesekollektiven, wie sie sich um einen auf Karl Marx’ Kapital spezialisierten Philosophieprofessor der Freien Universität gebildet hatten. Ich frage mich, ob es auch Menschen gab, die Weiss’ Roman allein und zuhause und ganz für sich gelesen haben. Ich jedenfalls nicht. In Lesekollektiven allerdings auch nicht. Sondern vor und im Seminar. Germanistik studieren, das hieß für mich eine Zeitlang, Die Ästhetik des Widerstands lesen und darüber in Seminaren diskutieren. So wie Philosophie studieren für mich eine Zeitlang hieß, das Kapital von Karl Marx lesen. Alle drei Bände. Und darüber in den Seminaren des besagten Professors diskutieren. Beziehungsweise still und bescheiden den anderen bei ihren Diskussionen zuhören. So war das damals in den siebziger Jahren im schönen villenbestandenen Dahlem, und ich frage mich, ob und wie sehr ich mich heute darüber wundern soll.
    Wobei über Die Ästhetik des Widerstands diskutieren natürlich auch hieß, über die in ihr verarbeiteten Theorien, Romane, Mythologien und historischen Ereignisse diskutieren. Und über die in ihr analysierten Kunstwerke wie Géricaults Floß der Medusa oder Picassos Guernica beispielsweise. Was wiederum bedeutete, diese Theorien, Romane, antiken Mythologien und Kunstwerke überhaupt erst einmal kennenzulernen. Picassos Guernica kannte ich natürlich. Géricaults Floß der Medusa schon nicht mehr. Irgendwann kamen dann auch noch die Notizbücher hinzu, die Weiss während der Arbeit an seinem Roman verfasst hatte. Vier umfangreiche Bände, in denen noch mehr Theorien, Romane, historische Ereignisse, Mythologien und Kunstwerke erwähnt wurden. Heute weiß man, dass Peter

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