Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
selbst als Leser gegenüber und bildet in gewisser Weise mit den verschiedenen Instanzen seines eigenen Autor-Ichs eine Arbeits- und Produktionsgemeinschaft.
Als Lehrender in Sachen Literarisches Schreiben kann mir im äußersten Falle alles zum pädagogischen Vorsatz und didaktischen Material werden. Als Schriftsteller hebe ich warnend den Finger: keine Pädagogik bitte, Inspiration ist gefragt, Obsession tut Not, das Schreiben ist ein Existential und kein Handeln nach Anleitung. So schwanke ich dann hin und her und weiß zugleich, dass die Wahrheit in der Vermittlung all dessen liegt, was ich hier auf zwei Pole verteilt habe. Und dass es vom einzelnen abhängt – vom einzelnen lernenden wie lehrenden Autor -, ob diese Vermittlung sich produktiv auswirkt.
Wie aber stehe ich nun zu meinen sogenannten ›Lehrmeistern‹? Zu dem, was mir lieb und teuer ist? Soll ich etwa Peter Weiss’ Abschied von den Eltern pädagogisieren und didaktisieren? Ein Buch, das ich als geheime Lebensschrift gelesen habe auf meinem eigenen Weg heraus aus dem Elternhaus und weg von den übermächtigen Schatten der Elternfiguren. Soll ich so ein Buch degradieren zu einer Schreibanregung? Soll ich Aufgaben stellen wie beispielsweise: Nehmen Sie die Rolle des Vaters oder der Mutter ein und antworten Sie auf den Sohn! Verwandeln Sie den Bericht über die Auseinandersetzung des Vaters mit dem Sohn über dessen berufliche Zukunft in einen dramatischen Dialog! Versetzen Sie sich in die Rolle von Jacques, dem Freund des Erzählers, und schreiben Sie ihm einen Brief, nachdem Sie sich endgültig von dem Erzähler verabschiedet haben!
Lieber nicht. Und auch zu Stilimitationen möchte ich niemandem raten. Eher schon den Ratschlag geben: Ahmen Sie alles nach, nur nicht sich selbst und niemals ihr Lieblingsbuch. Das einzige aber, was ich wirklich und ohne jede ironische Reserve raten kann, ist: genaue Lektüre. Und gegebenenfalls, falls diese Lektüre zu einer Leseerfahrung führt, die persönlich besonders berührend oder gar eine Schlüsselerfahrung ist: dem jeweiligen Werk einen besonders geschützten Platz in der eigenen Erfahrungswelt einzuräumen und darauf zu vertrauen, dass es seine Wirkung subkutan entfaltet. Ein Lieblingsbuch oder einen Lieblingstext haben heißt, einen Verbündeten zu besitzen, der uns den Weg zu uns selbst und damit auch zu den oft genug verborgenen Motiven unseres Schreibens und zu dem weist, was sich uns als Schreibaufgabe im existentiellen Sinn stellt. In unserem Falle ist dies: der lange, unendliche Abschied von den Eltern und der eigenen Kindheit.
ANTJE RÁVIC STRUBEL
Sätze bilden
Joan Didion: Demokratie [1984]
Ich habe alles von Joan Didion gelernt. Ich habe mir Feuer bei Brigitte Reimann und Ernest Hemingway abgeschaut, das Schwülstige bei James Baldwin, Pathos bei Djuna Barnes und Risiko bei Gertrude Stein, ich habe mir das Absurde bei Samuel Beckett, das Phantastische bei Wladimir Nabokov, das Romantische bei Paul Auster, Raymond Chandler und Ingeborg Bachmann abgeschaut.
Ich habe mir überhaupt alles abgeschaut. Aber das Abschauen hat keinen Sinn, wenn man nicht in der Lage ist, es in die eigene Sprache zu übersetzen. Joan Didion ist dafür die beste Mentorin.
Sie ist desillusioniert. Sie mißtraut der Idee vom Autor als Schöpfer literarischer Texte. Sie misstraut allem, was sich generalisieren lässt. In ihren Romanen formuliert sie klare, scharfkantige Sätze. Das Scharfkantige entsteht durch genaues Hinsehen. Auch ihre eigene Position betreffend, sieht sie genau hin.
»Nennen Sie mich die Autorin«, heißt es in ihrem Anfang der achtziger Jahre geschriebenen und jetzt im Claasen-Verlag neu aufgelegten Roman Demokratie . Hinter diesem Imperativ steckt der Zweifel. Wer schreibt? »Not I«, könnte man mit Beckett antworten: »nicht ich«. Das Ich der Autorin, das schreibende Ich, das allgemeine Ich ist ein sprachliches Irrlicht. Es bezeichnet die eigene Person unter Ausschließung aller anderen, es scheint das subjektivste Wort in der Sprache und ist doch das Allgemeinste; es kann von jedem benutzt werden und benutzt jeden.
Ein erzählerisches Ich ist zwar eine der geläufigsten Konventionen beim Schreiben. Aber Didion misstraut solchen Konventionen. Sie misstraut der Sprache als ihrem Träger. Sie sieht die Sprache als Abraumgebiet all der schönen Lügen, aus denen unser Alltag gestrickt ist, all der Verhaltenscodices, Gefühligkeiten, Ideologie und Moral. All das legt Didion frei, sobald sie in
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