Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Titel: Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kutzmutz
Vom Netzwerk:
schwingenden Vaters zu sagen, in der Wurstfabrik zu landen. Ganz so, wie es einem Flüchtlings- und Vertriebenenjungen in jenen Jahren zukam.
    Peter Weiss und Wolfgang Koeppen waren die Portalfiguren beim Eintritt in meine akademische Zukunft, von der ich allerdings noch nicht wusste, wie wenig- oder vielversprechend sie sein sollte. Peter Weiss habe ich darüber hinaus eine Initiation ganz besonderer Art zu verdanken: die Initiation in die Sekundärliteratur. Meinen ersten germanistischen Aufsatz habe ich über Peter Weiss geschrieben. Er hieß Am eigenen Leib. Sinnliche Erfahrung und ästhetische Wahrnehmung in Peter Weiss’ Prosa und war 1981 in einem von meinem Doktorvater mitherausgegebenen Sammelband mit dem Titel Die ›Ästhetik des Widerstands‹ lesen erschienen. Normalerweise lese ich nicht in alten Aufsätzen von mir, ich komme mir dabei irgendwie unanständig vor, nun aber habe ich doch einmal hineingeschaut und festgestellt, dass sich eine Seite des Aufsatzes auch mit Abschied von den Eltern beschäftigt. Heute lese ich den eigenen Text eher symptomatisch und kann an den Zitaten feststellen, was mir damals wichtig war an Weiss’ Erzählung. Da war zum einen das Thema der erwachenden Sexualität des Knaben, worauf er mit Schuldgefühlen und Selbstzerstörungsphantasien reagiert: »Abends im Bett zuckte mein Glied und bäumte sich auf, es pochte in ihm, es schwoll an und brannte. Ein rasender Haß auf dieses Glied ergriff mich, ich hätte es abhacken wollen …«
    Das ist das Schöne an germanistischen Aufsätzen, man kann Dinge wie diese öffentlich aussprechen, ohne dass jemand sich beschweren darf. Der körperbesessene Weiss eignet sich insgesamt sehr gut zum Zitieren von drastischen Angelegenheiten aus der Trieb- und Sexualsphäre, die man selbst noch nicht mal zu denken wagt.
    Doch war es nicht die sexuelle Drastik, die mich faszinierte, auch wenn ich obigen Satz gern zitiert hatte, sondern eine ›Urszene‹ ganz anderer Art. Gemeint ist die Erinnerung an einen unbeschwerten Sommertag, den der Erzähler nackt mit anderen Kindern im Garten seines Onkels verbringen durfte, und der für ihn zu einem Schlüsselmoment kindlicher Erfahrung wird: »Ein einziges Mal in meiner Kindheit erlebte ich eine Ahnung von körperlicher Freiheit.« Das schlichte Pathos und die traurige Wahrheit dieses Satzes hatten mich berührt und in eingebildete Nähe zum Erzähler gerückt. Er fühlte, was ich fühlte. Ich fühlte, was er fühlte.
    Eine Nähe, die noch gesteigert wurde durch den Anfang des Buches, wo Peter Weiss über seine Eltern schreibt: »Nie habe ich das Wesen dieser beiden Portalfiguren meines Lebens fassen und deuten können. Bei ihrem fast gleichzeitigen Tod sah ich, wie tief entfremdet ich ihnen war. Die Trauer, die mich überkam, galt nicht ihnen, denn sie kannte ich kaum, die Trauer galt dem Versäumten, das meine Kindheit und Jugend mit gähnender Leere umgeben hatte.«
    Wobei mich diese Passage heute noch mehr irritiert als damals, trifft sie mich doch sozusagen ins Herz beziehungsweise in die Leere meiner eigenen niemals enden wollenden ostwestfälischen Kindheit. Es ist eine Leere mit Sogwirkung. Eine gefräßige Leere. Sie will mit Worten gefüttert werden, mit Gedichten, Essays und Erzählungen. Sie verschmäht auch ganze Romane nicht. Nicht die kleinen Romane. Und auch nicht die großen. Nicht mal einen solchen wie Die Ästhetik des Widerstands mit ihrer niederzwingenden, geradezu betäubenden Sprachmacht.

Aufgabe
    Mindestens zwei Seelen schlagen in meiner Brust: zum einen die des Schriftstellers, der davon überzeugt ist, dass Schreiben viel mit Einsamkeit, mit Unkontrolliertheit und Spontaneität, mit dem Unbewussten und all dem zu tun hat, was jeder Didaktik und jeder Pädagogik vorausgeht. Und zum anderen die des Pädagogen, der auch für Literarisches Schreiben oder Creative Writing zuständig ist und weiß, dass nicht nur die Einsamkeit des Schriftstellers die Bedingung seiner Vergesellschaftung ist, sondern dass auch umgekehrt die Vergesellschaftung des Schriftstellers die Bedingung seiner Einsamkeit ist. Mit anderen Worten: ein Schriftsteller, der nicht veröffentlicht und sich nicht veröffentlicht, ist keiner. Ebensowenig wie einer, der nicht weiß, dass auch der isolierteste Schreibprozess niemals ein vollkommen autonomer ist: einen ersten Leser gibt es immer, sei es der Lektor oder die Ehefrau. Und sollte es beide ausnahmsweise einmal nicht geben, dann tritt der Schriftsteller sich

Weitere Kostenlose Bücher