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Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Titel: Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kutzmutz
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Weiss Notizen im Umfang von insgesamt 9432 Seiten hinterlassen hat, die nun auch auf CD-Rom erscheinen sind. Gut, dass sie nicht schon damals vorlagen. Das Peter-Weiss-Studieren hätte kein Ende genommen.
    Die monumentale Ästhetik des Widerstands war Peter Weiss’ letztes Werk. Wir wissen nicht, ob sie ihn erschöpft und krank gemacht oder ob er eine eigene drohende Erschöpfung und Erkrankung durch die Arbeit an ihr noch einige Jahre aufschieben konnte. Der Ästhetik des Widerstands wiederum sind zwei Erzählwerke vorangegangen: Abschied von den Eltern und Fluchtpunkt . Sie bilden die autobiographischen Vorstufen zu der großen Wunschautobiographie aus proletarischer Perspektive, die Die Ästhetik des Widerstands darstellt.
    Vor der Ästhetik des Widerstands gehe ich in die Knie. Dem Abschied von den Eltern und Fluchtpunkt nähere ich mich halbwegs aufrecht.
    Wenn ich heute nach einem Lieblingsbuch gefragt werde, dann nenne ich ohne Zögern Abschied von den Eltern . Ob ich aus der Erzählung für mein eigenes Schreiben etwas gelernt habe, vermag ich nicht zu sagen. Ich weiß allerdings, dass Peter Weiss der Autor war, der mir ermöglicht hat, eine Staatsexamensarbeit zu schreiben. Sie trug den Titel Die Suche nach der Identität in den autobiographischen Romanen von Peter Weiss und wurde im Jahr 1979 als »Wissenschaftliche Hausarbeit im Rahmen der Ersten (Wissenschaftlichen) Staatsprüfung für das Amt des Studienrats« eingereicht. Aber wem sage ich das? Zuallererst wohl mir selbst. Denn jetzt, nachdem ich schreibe, was ich zum letzten Mal geschrieben habe, als ich das Deckblatt der Staatsexamensarbeit in einer Wohngemeinschaft in Berlin Schöneberg mit einer Olympia Traveller Schreibmaschine tippte, fällt mir auf, wie lange mich schon das Autobiographische beschäftigt. Im Grunde genommen immer schon. Seit ich denken kann. Seit mir das Fruchtwasser durch die Kiemen strömte. Und es wird mich wohl bis ans Lebensende beschäftigen. Denn was du nicht ererbt von deinen Vätern...
    Wenn mir Peter Weiss meine Staatsexamensarbeit ermöglicht hat, dann hat mir Wolfgang Koeppen meine Doktorarbeit ermöglicht. Letzterem habe ich sie dann sogar geschenkt, als ich ihn in München aufsuchte, um an der Werkausgabe mit ihm zu arbeiten. Ich bin nicht sicher, ob er sich darüber gefreut hat. Für einen ziemlich langen Moment schwebte meine Doktorarbeit über Koeppen, zwischen Koeppen und mir, bevor er sie endlich an sich nahm.
    Ich habe danach jedenfalls nie wieder Kontakt mit Koeppen gehabt. Wer will schon Kontakt mit jemandem haben, der über einen eine Doktorarbeit geschrieben hat. Heute bin ich froh, dass ich Peter Weiss nicht meine Staatsexamensarbeit geschenkt habe. Was ich durchaus hätte tun können, denn ich bin von meinem Doktorvater einmal mit ihm bekannt gemacht worden. Es war im Foyer der Westberliner Akademie der Künste, wo ich Peter Weiss die Hand geschüttelt habe und wo mich sein Blick ungefähr eine Zehntelsekunde streifte. Vielleicht ist es auch nur eine Nanosekunde gewesen. Als ich ihm die Hand schüttelte, schwebte zwischen uns für einen kurzen Moment der Satz Die Suche nach der Identität in den autobiographischen Romanen von Peter Weiss . Ich habe den Satz dann wieder an mich und mit nach Hause genommen und dort ganz stark den Eindruck gehabt, als hätte ich, während ich Peter Weiss die Hand schüttelte, im Hintergrund auf einem Sessel auch Jean Améry sitzen sehen.
    Vielleicht wäre ohne Peter Weiss und Wolfgang Koeppen nie ein Mensch mit einem akademischen Abschluss aus mir geworden. Obwohl ich zur Not natürlich immer noch eine Staatsexamensarbeit mit dem Titel Die Suche nach der Identität in den Romanen von Max Frisch hätte schreiben können, was in jenen Jahren die meisten meiner Kommilitonen taten. Doch hatte mich Max Frisch damals nicht interessiert, und was einen nicht interessiert, darüber sollte man auch keine Examensarbeit schreiben. Eine Maxime, an die sich viele meiner Kommilitonen nicht gehalten haben. Ich hätte mich daran gehalten, also hätte es keinen Ausweg für mich gegeben. Denn mich interessierte damals für einige Zeit hauptsächlich Peter Weiss, so wie mich einige Jahre später für einige Zeit hauptsächlich Wolfgang Koeppen interessierte. Beide haben mich und die übrige Menschheit davor bewahrt, einen handwerklichen Beruf zu ergreifen und zum Beispiel Dachdecker oder Kraftfahrzeugmechaniker zu werden oder auch, um es mit den Worten meines die rechte Armprothese

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