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Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Titel: Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kutzmutz
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Effekten zu scannen. Die permanente Beobachtung ist zum Automatismus geworden, so selbstverständlich wie Atmen oder Essen. Video ergo sum – ich sehe, also bin ich.
    Das Entscheidende bei allem ist: Genazino nimmt sich Zeit und gibt seinen Figuren Zeit. Ihre Stärken sind Aufmerksamkeit, Konzentration, Hingabe an den Moment, der, je länger sie sich versenken, verblüffende Tiefenschichten entfaltet. Es gelingt ihnen, einzelne Bilder und Bilderfolgen herauszugreifen, quasi einzufrieren, um sie dann in aller Ruhe auszuwerten. Sie entziehen sich der permanenten Gleichzeitigkeit der Medien und Realitäten, die auf sie einströmen, indem sie sich für die Zeitlupe entscheiden. Die Kunst des Autors besteht darin, dass er die auf diese Weise fokussierten Bilder nicht einfach aneinander reiht, sondern mit Bedeutung auflädt, emotionalisiert. In einer eindrucksvollen Szene im Roman Ein Regenschirm für diesen Tag beobachtet der Erzähler eine Frau beim Wäsche-Aufhängen. Weiter nichts? Und ob, ein ganzes Leben wird hier mit den Wäschestücken aufgerollt:
    »Jeden Tag öffnen sich ringsum Balkontüren, Frauen erscheinen und prüfen mit der Hand, ob die Wäsche trocken, halb trocken oder fast trocken ist. Von einer älteren Frau, die soeben mit einem Plastikkorb frischer Wäsche auf ihren Balkon tritt, nehme ich an, daß sie durch den Umgang mit ihrer Wäsche leicht verrückt geworden ist. Sie hängt die Wäsche auf und verschwindet wieder in ihrer Wohnung. Aber schon nach zwei Minuten kontrolliert sie zum ersten Mal, ob die Wäsche nicht schon trocken ist. Erneut tritt sie zurück in die Wohnung, aber schon nach kurzer Zeit erscheint sie wieder auf dem Balkon und wiederholt ihre Kontrollgriffe in die Wäsche. Sie läßt es zu, daß sie von ihrer verrückten Ungeduld bis in die Erschöpfung getrieben wird. Vielleicht ist es auch umgekehrt: Nur in der Erschöpfung findet sie momentweise Ruhe vor ihrer Verrücktheit.«
    Der Erzähler schaut sehr genau hin, registriert jeden Handgriff, jeden Schritt der Frau. Indem er ihre alltäglichen Handlungen transzendiert (»daß sie durch den Umgang mit ihrer Wäsche leicht verrückt geworden ist«), wird sie plötzlich zu einer tragischen Figur: Sie unterliegt – wie übrigens die Hauptfigur selbst, die immer wieder über die eigene Verrücktheit spekuliert – seltsamen Macken und Kontrollzwängen, wird zur Chiffre für urbane Einsamkeit. Als sie schließlich auf dem Balkon einschläft, assoziiert der Betrachter mit den Laken Leichentücher, die Einsamkeit der Frau mündet unmittelbar in den Tod. Doch halt, sie wacht wieder auf, ist gerettet, und sofort greift sie erneut in ihre Wäsche. Sie ist noch einmal davongekommen – so wie übrigens der unheldische Held des Romans am Ende gerade noch die Kurve kriegt. Perfekt verklammert Genazino in dieser Sequenz das Besondere und das Allgemeine, das unspektakuläre Detail und die unterschwellige Tragödie der Ungeborgenheit. Die Genauigkeit des Blicks, die Entschleunigung der Wahrnehmung generiert Geschichten, die den Betrachter unter Umständen selbst überraschen – diese Haltung ist typisch für den Erzähler und Beobachtungs-Maniac Genazino. Und sie hat den großen Vorteil, dass sie in ihren Grundvoraussetzungen einfach ist – jeder, der schreiben will, kann sich auf dieses Experiment einlassen.
    Genazino, der in hohem Maße ein reflektierter Autor ist, weiß, was er tut. In seinem Text Der gedehnte Blick in dem gleichnamigen Essay-Band erzählt er von einem alten Foto, das er auf dem Flohmarkt für eine Mark gekauft hat. Es zeigt zwei Kinder, zehn oder elf Jahre alt, das Mädchen hat eine Puppe im Arm, der Junge hält eine Ziehharmonika. Beide sind eigentlich Unkinder, seltsam ernst, erwachsen, melancholisch. Der Autor blickt immer wieder auf das Foto und kommt schließlich zu dem Schluss, dass es als Porträt gescheitert ist. Warum? Darüber denkt er ausführlich nach, sucht nach versteckten Geschichten. Wichtiger in unserem Zusammenhang ist aber, dass Genazino hier Reflexionen anstellt, die als poetologisch für sein gesamtes Werk gelten können und für alle, die schreiben wollen, erhellend sind:
    »Der gedehnte Blick nimmt alles, was er sieht, sorgfältig auseinander und setzt es wieder neu zusammen. Denn alles, was wir über die Zeit anschauen, beginnt eines Tages in uns zu sprechen. Diesen Text wollen wir hören, während wir die Bilder imaginativ umbauen. Der laufende Auseinander- und Wiederzusammenbau der Bilder ist unsere

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