Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
Technik, mit dem Problem fertig zu werden, daß auch der gedehnteste Blick nicht alles zugleich und nicht alles sofort sehen kann.«
Vergleichbare Spielchen, Realität zu demontieren und neu zusammenzusetzen, erledigt der Traum ganz von selbst: Anhand von realem biografischen Material liefert er uns jede Nacht die verrücktesten Geschichten. Wenn wir schreiben, müssen wir diese Geschichten erst erfinden. Voraussetzung dafür ist, unserer Umgebung vorurteilslos, geduldig und mit geschärftem Blick zu begegnen. Wer schreiben will, sollte immer wieder auf diesen Blickwinkel zurückkommen, das Besondere im scheinbar Alltäglichen suchen. Für Kinder, so Genazino, ist die Perspektive des gedehnten Blicks ganz natürlich, sie sind sogar darauf angewiesen, anders könnten sie die komplexe Wirklichkeit um sich herum gar nicht ertragen.
In einigen Sequenzen des Romans wird aus der ausführlichen Beobachtung eine immer größere Reduktion. Das Wesentliche eines Menschen, einer Begegnung, eines Gesprächs wird herausgeschält, bis die Protagonisten schließlich ungeschützt vor uns stehen – das Ergebnis des langen Hinschauens ist wie eine Röntgenaufnahme. Dieses Verfahren finden wir zum Beispiel in einer fast absurden Kaufhaus-Szene. Der Erzähler beobachtet einen arbeitslosen Fotografen namens Himmelsbach, den er von früher kennt: »Er geht in der Parfümabteilung umher und sprüht sich aus verschiedenen Probierflakons kleine Duftproben zuerst auf die Innenseiten seiner Hände und Armgelenke und dann auf die Arme. Jedesmal macht es Pfft!, wenn die Düsen Parfüm ausstäuben. Ach Gott, denke ich, so einer ist Himmelsbach geworden. Er parfümiert sich kostenlos in Kaufhäusern und kommt sich wahrscheinlich noch raffiniert dabei vor. Ich sehe, es ist ein ältliches Gespenst aus ihm geworden, ein Pfft-Mann, der niemals seine Schulden bezahlen wird.« Ein Mann wird zu einem Geräusch, das sich im Äther versendet, der »Pfft-Mann« ist eine traurige Figur. In der radikalen Reduktion liegt, wie so häufig bei Genazino, ein hohes Maß an Komik, die die Armseligkeit der Figur ein wenig erträglicher macht.
Der gedehnte Blick des Autors ruht nicht nur auf Menschen, auch Gegenstände legt Genazino unters Mikroskop, und die Nano-Beobachtung führt zu kuriosen Assoziationen. Zum Beispiel, wenn sich der Erzähler mit einer Staubfluse vergleicht: »Ich schaue auf den Boden und betrachte die da und dort herumliegenden Staubflusen. Wie sonderbar heimlich sich der Staub vermehrt! Plötzlich fällt mir ein, daß Verflusung vielleicht das richtige Wort für den gegenwärtigen Stand meines Lebens ist. Genau wie eine Staubfluse bin auch ich halb durchsichtig, im Kern weich, äußerlich nachgiebig und übertrieben anhänglich und außerdem schweigsam.«
Die Konsequenz, mit der Genazino seinen Vergleich von Mensch und Materie durchzieht, macht den Humor dieses Abschnitts aus und ist wiederum nur möglich, weil der Autor auch der minimalen Bündelung von Atomen – Staub – seine Aufmerksamkeit schenkt. So gelingt Genazino, der ein Faible für ungewöhnliche Neologismen hat, die Ableitung eines ganzen Daseinszustands aus einem Hauch von einem Ding. Die »Verflusung« des Lebens trifft viele seiner Figuren.
Genazinos Protagonisten sind häufig Verlierer, Einzelgänger, Profis des Scheiterns, die nicht den glamourösen Heldentod sterben, sondern unauffällig durch die gesellschaftlichen Netze rutschen. Als zwanghafte Selbstbeobachter nehmen sie ihr Scheitern wahr, ohne es aufhalten zu können. Keine Lust am Untergang treibt sie, vielmehr sind sie melancholische Seismographen ihrer Niederlage. Gerade die Hauptfigur von Ein Regenschirm für diesen Tag weiß genau, dass sie aus der Beobachtungs-Falle nicht herauskommt. In einer Szene steht der Erzähler an einem Fluss, dessen Wasserstand sehr hoch ist, und betrachtet das Geschehen:
»Guter Gott, wie mir dieser Zwang zum bedeutungsvollen Sehen auf die Nerven geht. Beinahe kann ich mir zuhören, wie ich mich selbst ermahne: Ein Kahn ist ein Kahn und sonst nichts. Kurz darauf schwimmt eine Ente vorüber; sie hat ein Bein eigentümlich hochgestellt. Und obwohl ich mich gerade ermahnt habe, nicht mehr bedeutungsvoll zu sehen, fällt mir doch der Satz ein: Guter Gott, jetzt sind auch noch die Enten behindert.«
Der Erzähler nimmt sich vor, »nicht mehr bedeutungsvoll zu sehen«, so wie andere sich vornehmen, nicht mehr zu rauchen. Was natürlich nicht klappen kann. Sein Scheitern ist tragisch und
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