Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
ihr und bemerkt dabei, daß der von Susanne erwünschte/ersehnte /erträumte Mann nicht in ihr Leben tritt. Nur deswegen verbündet sich die übriggebliebene Susanne dann doch mit dem bloß zufällig anwesenden Mann, also mit mir. Erschwerend kommt hinzu, daß Susanne für mich eigentlich zu schön ist.«
Liebe und Zuneigung in modernen Zeiten, in denen jeder den eigenen und den Marktwert des anderen taxiert. Zufall und Plan. Begrabene Illusionen und Verlegenheits-Allianzen: All das transportiert Genazino in diesen wenigen Sätzen. Um eine vertrackte Beziehungs-Arithmetik aufzuschlüsseln, treibt er ein raffiniertes Spiel mit der Perspektive, betrachtet sich selbst von außen, als Objekt. Auch in dieser Passage schlägt Genazino keine komplizierten sprachlichen Volten, sondern vertraut auf das Spiel mit Tonart (kalkuliert nüchtern) und Perspektive. Der Schlusssatz liefert eine wunderbare Pointe.
Wer Wilhelm Genazino liest, lernt die hohe Schule des sprachlichen Understatements. »Fast alle Wörter sagen zuviel. Kaum ein Wort sagt zu wenig«, hat Genazino einmal geschrieben. Unaufdringlicher Humor, subtile Zivilisationskritik, ein schwebender Ton, der zwischen ratloser Heiterkeit und melancholischer Verlorenheit oszilliert – an vielen Stellen des Romans sind verschiedene Lesarten möglich. Es lohnt sich, jeden einzelnen Satz, jede Sequenz daraufhin abzuklopfen, wie viele Tonlagen mitschwingen, denn Genazinos Sprache hat etwas von einem Chamäleon, ihre Grundierung kann schnell wechseln. Wie etwa in der oben zitierten Passage, als der Schuhtester über Staubflusen nachdenkt: Natürlich ist die »Verflusung« seines Lebens traurig, bedenklich, besorgniserregend. Aber gleichzeitig auch komisch – der Humor schafft gleichsam mildernde Umstände.
Die Nuancen im Ton sind bei Genazino auch ein Ergebnis des »bedeutungsvollen Sehens«, das Menschen und Dinge in behutsamem Tempo zerlegt. Diese Art des Sehens wird zu einem Dietrich, der die Realität neu erschließt – mit ihren Brüchen und Widersprüchen, aber auch mit ihren poetischen Momenten. Das, was der Schuhtester bei seinen Stadtspaziergängen zu sehen bekommt, ist keine gefällige Beschaulichkeit, dazu ist die Wirklichkeit zu disparat und chaotisch. Mit dieser Sichtweise knüpft Genazino an Walter Benjamin und seine Deutung des Flaneurs an. »Die Figur des Flaneurs hat in der zerstückelten Stadt abgedankt und ist ersetzt worden durch einen moderneren Typus, den des Streuners. Der Streuner ist jemand, der selbst der Ungemütlichkeit noch einen Reiz abgewinnen möchte und dabei oft erfolgreich ist«, schreibt Genazino in Die Belebung der toten Winkel . Während bei Franz Kafka, auf den Genazino in seinem Werk immer wieder anspielt, die bedrohlich undurchschaubare Welt im Vordergrund steht, suchen Genazinos Figuren nach Sinn, nach einer zumindest subjektiv empfundenen Plausibilität. Gelegentlich gelingt es ihnen, diesen Sinn zu schaffen und sich so die Welt – im wörtlichen Sinne – zu eigen zu machen. Der Autor wiederum vermag auf diese Weise, dem Alltag seine Würde zurückzugeben. Ohne Kitsch. Ohne Klischees. Ohne weltanschauliches Tamtam. Wilhelm Genazino tappt in keine dieser Fallen, dafür ist er zu klug, zu ironisch, zu nachdenklich. Auch deshalb, wegen seiner fast traumwandlerischen stilistischen Sicherheit, sollten wir den Roman Ein Regenschirm für diesen Tag lesen. Je öfter wir es tun, umso mehr können wir von diesem hintergründigen Alltags-Erkunder lernen.
Aufgabe
Der Schreiber nimmt sich einen überschaubaren Realitätsausschnitt vor, das kann ein Foto sein, er kann sich aber auch eine Zeitlang in eine U-Bahn, Kneipe oder auf eine Parkbank setzen. Wichtig ist, dass der Autor sehr genau registriert und notiert, was um ihn herum geschieht. Er muss bereit sein, vorurteilslos und nicht hierarchisch zu schauen, er muss sich überraschen lassen können. In der zweiten Phase soll er aus seinen Beobachtungen eine Szene / Betrachtung / kleine Geschichte gestalten, in der er seine Eindrücke nicht einfach aneinander reiht, sondern ihnen Bedeutung gibt, mit einem eigenen Ton, eigenen Ideen unterlegt. Herauskommen sollte eine Miniatur, die durch die Genauigkeit der Beobachtung und die originelle Transformierung des Gesehenen überzeugt.
OLAF KUTZMUTZ
Ein Gang durchs Schreibcamp
Ole Könnecke: Doktor Dodo schreibt ein Buch [2001]
für Jean-Paul
Zu den Kuriosa der Schreibratgeber gehört, dass ein Lehrmeister bislang verkannt ist, der präzise wie
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