Erwachen
Hemmungen, ihn zu benutzen.«
Kurz überlegte ich, ob ich mich nicht auf die Feuerleiter flüchten sollte, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Sie war Alice’ Schwester, und früher oder später musste ich mich ihr ja doch stellen, da konnte ich es auch gleich hinter mich bringen.
Ein weiteres Hämmern, dann das Scheppern eines Schlüsselbunds. »Okay. Ich komme rein.«
Ich schob den Riegel zurück, drehte den Türknauf und riss die Tür auf. Rachel, die ihren Schlüssel gerade ins Schloss gesteckt hatte, wurde mitgerissen und stolperte in den Flur.
Sie starrte mich an, richtete sich auf und zog den Schlüssel heraus. »Noch langsamer kannst du deinen Hintern wohl nicht in Bewegung setzen.«
»Es ist noch früh, Bach«, entgegnete ich. »Du hast mich aufgeweckt.«
»Räch?«, wiederholte sie. »Was ist los, AI?«
Es gelang mir, ein müdes Lächeln auf die Lippen zu zaubern. Offensichtlich hatte diese Familie es nicht so mit Kosenamen. »Ist mir nur so rausgerutscht.«
»Dann schieb’s wieder rein.« Sie ließ ihre Handtasche auf den kleinen, mit Intarsien versehenen Tisch in der Nähe der Tür fallen und ging einfach weiter in die Küche.
Ich blieb ein bisschen zurück, um mir erst mal ein Bild von ihr zu machen. Die Handtasche war eindeutig von Prada, und Rachels total aufeinander abgestimmtes Outfit verriet mir, dass sie nicht ein einziges Kleidungsstück am Leib trug, das ohne einen berühmten Namen daherkam. Auch Alice hatte sich, wie ich bereits festgestellt hatte, gut gekleidet, aber ihre Sachen verströmten eher den Charme günstiger Einkaufsketten. Rachel dagegen stank nach Geld.
»Schläfst du neuerdings in deinen Klamotten?«, fragte sie von der Küche her.
»Was?«
Sie zog die Augenbrauen hoch und machte eine Kopfbewegung in meine Richtung. Ich sah an mir herab und stellte fest, dass ich immer noch in Jeans und Tanktop rumlief. Es waren zwar keine Blutflecken mehr zu sehen, aber ich roch bestimmt noch danach. Es war ein höllischer Tag gewesen. Buchstäblich.
»Netter Pyjama.«
»Ach so, ja … Ich bin vorm Fernseher eingeschlafen und … na ja, du weißt schon.«
»Ich denke, doch«, entgegnete sie, aber bevor ich sie fragen konnte, was sie damit meinte, verschwand sie hinter dem Tresen und tauchte mit einem Mixer in der Hand wieder auf. Sie stöpselte ihn ein, warf mir über den Tresen hinweg einen prüfenden Blick zu und drehte sich dann um, um den Inhalt meines Kühlschranks zu inspizieren.
»Was tust du … ?«
»Ich kenne dich, Alice. Du isst nicht richtig. Ich mache dir einen Shake.«
Ich wollte gerade widersprechen, sagen, dass ich nach einer streng ausgewogenen Diät lebte, als mir bewusst wurde, dass ich außer ein paar Bissen Fisch mit Pommes in den letzten vierundzwanzig Stunden nichts zu mir genommen hatte. Ausgerechnet in dem Moment fing mein Magen an zu knurren, und R achel sah mich triumphierend an. Zwei Dinge wurden mir schlagartig klar: erstens, dass ein Shake gar nicht so schlecht klang. Und zweitens, dass ich null Erfahrung mit der Bolle der jüngeren Schwester hatte. Bis jetzt, musste ich zugeben, war es nicht allzu schlimm. Ein bisschen überfallartig, aber erträglich.
»Was ist los?« R achel warf mir einen kurzen Blick zu. »Was ist passiert?«
Ich rieb mir die Augen, um die Tränen wegzuwischen, die mir beim Gedanken an Bose gekommen waren. »Nichts. Ich habe dir doch gesagt, du hast mich aufgeweckt.«
Das schien sie nicht unbedingt zu überzeugen, aber sie war zu sehr damit beschäftigt, Joghurtbecher auszukratzen, um nachzuhaken.
»Und was tust du hier um diese Uhrzeit?« Eine riskante Frage für jemanden, der derart ahnungslos war, aber ich beschloss, sie trotzdem zu stellen.
»Kann eine große Schwester denn nicht einfach mal ihre kleine Schwester besuchen kommen?«
Ich legte den Kopf auf die Seite und hoffte, entweder genervt oder resigniert zu wirken.
Es funktionierte. »Jetzt hör schon auf! Ich habe versprochen, dass ich da nicht wieder aufkreuze, und ich habe das ernst gemeint. Aber das heißt nicht, dass ich es nicht für eine total bescheuerte Idee halte, dort wieder zu arbeiten.«
»Ich weiß«, entgegnete ich und zuckte auf eine Art mit den Schultern, von der ich hoffte, sie würde Rachel zu einer längeren Standpauke herausfordern.
Das ohrenbetäubende Sirren des Mixers setzte dieser Hoffnung ein Ende, und bis sie die Shakes eingoss, hatte sie das Thema ganz offensichtlich bereits aus den Augen verloren. Vielleicht hatte ich ja
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