Erwachen
letzte war von Sylvia, die angerufen hatte, um sich zu verabschieden, bevor sie sich mit ihrem Freund auf eine Europareise begab.
Freunde. Alice hatte Freunde gehabt und ein Leben, Menschen, denen sie etwas bedeutet hatte. Menschen, die um sie getrauert hätten, wenn sie von ihrem Tod gewusst hätten. Mühsam schluckte ich und fragte mich, ob wohl irgendjemand Lily Carlyle hinterhertrauerte - abgesehen von Rose und Joe.
Wieder schluckte ich, schüttelte die Melancholie ab und
wandte mich erneut dem Anrufbeantworter zu. Gracie hatte ich bereits kennengelernt, und mehr Freundschaft konnte ich im Moment echt nicht ertragen. Es war so schon schwer genug, mit diesem neuen Ich klarzukommen. Ich konnte nicht auch noch gleichzeitig die alte Alice sein. Jedenfalls nicht sofort. Erst musste ich mich in dieser Rolle besser zurechtfinden.
Ich drückte auf die Löschtaste und lauschte, wie das Gerät mit sirrendem Geräusch die Freunde verschwinden ließ. Jetzt kann ich wieder bei null anfangen, dachte ich. Komplett von vorn.
Aber ein Teil von mir hätte doch gern Sylvia und Brian kennengelernt. Wollte mit ihnen ein Bier trinken gehen oder ins Kino. Und ein anderer Teil von mir fragte sich, ob sie wohl Alice sehen würden, wenn wir uns trafen. Oder ob sie wie Deacon feststellen würden, dass irgendetwas nicht stimmte.
Genervt schob ich die Gedanken beiseite. Alice’ Computer war inzwischen startklar, und glücklicherweise hatte sie das System nicht mit einem Passwort geschützt. Außerdem konnte ich mich an mindestens vier WLAN-Netze dranhängen.
Eigentlich wollte ich Deacons Namen eingeben, aber meine Finger machten sich selbstständig und suchten nach meinem eigenen. Ich stieß auf die Bekanntmachung, dass meine Beerdigung am Donnerstagnachmittag stattfinden würde. Man ging davon aus, dass die Polizei die Leiche bis dahin freigegeben hätte.
Der Gedanke, dass ich durch die Gegend spazierte, während mein Körper auf der Liege eines Bechtsmediziners ruhte, jagte mir einen Schauder über den Bücken. Aber vor allem musste ich an Rose und meinen Stiefvater denken. Wie es ihnen wohl ging, jetzt, wo ich tot war? Und wie schrecklich musste es für sie gewesen sein, mich im Leichenschauhaus zu identifizieren.
Vor meinem inneren Auge tauchte ein Bild von Bose auf mit tränenüberströmtem und ramponiertem Gesicht. Ich hatte immer noch die Kohle, die ich ihr schicken wollte, also suchte ich in
Alice’ Wohnung nach einem Umschlag, stopfte das Geld hinein und kritzelte Rose’ Adresse drauf. Es war nicht viel, aber immerhin etwas. Genau wie das Medaillon, das jetzt über meinem Herzen hing: Es machte nicht viel her, aber es bedeutete mir alles.
Ich wollte ihr mehr Geld schicken. Verdammt, ich wollte mit ihr reden! Wollte mehr als den kurzen Blick auf das völlig verstörte Mädchen, das ich in der Tür gesehen hatte. Und obwohl mir klar war, dass ich das besser lassen sollte, hob ich den Hörer ab und wählte unsere Telefonnummer. Ein kurzer Anruf von Lilys angeblicher Freundin würde schon nicht gleich sämtliche Dämonen der Welt zu ihrer Haustür führen.
»Hallo? Hallo?« Ihre Stimme klang dünn und als wäre sie in Eile, und mir wurde bewusst, dass sie sich vermutlich gerade für die Schule fertig machte.
Ich öffnete den Mund, brachte aber kein Wort heraus.
»Verdammt«, sagte sie und knallte den Hörer auf, als ich gerade mühsam »Bose« flüsterte.
Ich hielt den Hörer weit von mir und starrte ihn an, bis sich meine Augen mit Tränen füllten. Ich hatte ihr Angst gemacht. Das hatte ich nicht gewollt. Ich hatte nur ihre Stimme hören wollen.
Und mit meinem Egoismus hatte ich bei ihr vermutlich die Erinnerung an Johnsons grauenhafte Anrufe wachgerufen.
Wenigstens er war tot.
Die Artikel, die ich im Internet fand, bestätigten, was Clarence mir erzählt hatte: Unser beider Leichen waren am Tatort gefunden worden. Also hatte ich geschafft, was ich mir vorgenommen hatte - ich hatte Lucas Johnson umgebracht.
Ich hatte einen Plan entworfen, war losgezogen und hatte getötet.
Und das bereute ich keinen Moment lang.
Ich schloss die Augen, holte tief Luft und verstand nun endlich , was Clarence und Zane schon die ganze Zeit gewusst hatten. Was ich gespürt hatte, als ich den Blutsauger erledigt hatte: Ich konnte wirklich töten. Ich konnte dem Bösen die Stirn bieten und die Klinge bis zum Anschlag darin versenken.
Das gefiel mir. Das gefiel mir sogar außerordentlich.
Ich schüttelte die Gedanken ab und
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