Erwachen
ihnen gesprochen. Auch nicht darüber, was er Bose angetan hatte. Nicht über das System, das ihm die Freiheit wiedergegeben hatte. Und schon gar nicht über meinen Racheplan.
Stattdessen hatte ich mich zurückgezogen. Hatte mich eingesperrt, nie mehr zurückgerufen und mich ganz in mich selbst verkrochen. Und je mehr ich in meine nur noch von R achegedanken erfüllte Welt abtauchte, desto mehr verlor ich meine sogenannten Freunde. Nicht einer hatte gefragt, was mit mir los sei. Nicht einer war vorbeigekommen, um nachzusehen, wie es mir ging.
Ich richtete den Blick auf Gracie und versuchte, mir vorzustellen, sie würde sich derart desinteressiert zeigen. Aber es gelang mir nicht, dafür war sie einfach zu sehr Gracie, nicht irgendeine flüchtige Bekanntschaft, die sich im Hinterzimmer einen Schuss setzte und einen gelegentlich um Geld anhaute. Zuverlässig. Eine Freundin. Und zum ersten Mal wurde mir bewusst, was der eigentliche Unterschied zwischen Alice und mir war: Zwar war sie jetzt tot, aber sie war mal deutlich lebendiger gewesen, als ich das je geschafft hatte. Und sie war - dachte ich mir jedenfalls - auch sehr viel geheimnisvoller gewesen. Eine verwöhnte Göre mit einem Faible für Rosa, die Freunde hatte, attraktive Männer anzog und offensichtlich mit schwarzer Magie rumspielte. Und ein paar nicht gerade harmlose Geheimnisse hatte.
Ich zog die Stirn kraus, aber falls Gracie oder den Männern meine nachdenkliche Stimmung auffiel, äußerten sie sich jedenfalls nicht dazu. Stattdessen hingen sie an Grades Lippen, während sie davon schwärmte, wie sicher sie sei, den Job zu kriegen. »Und das verdanke ich alles Alice.« Sie strahlte mich an. »Du bist die Beste.«
»Wenn du das wirklich bist«, sagte Brian, »besorg mir doch ebenfalls einen neuen Job. Mein Chef treibt mich in den Wahnsinn.«
»Tut mir leid«, erwiderte ich trocken. »Ich helfe nur denen, die wirklich begabt sind.«
Er presste die Hände gegen sein Herz. »Zack! Schon der erste Pfeil aus ihrem Köcher hat mich niedergestreckt.«
Ich grinste und trank einen Schluck Wasser. Vielleicht würde das Ganze einfacher, als ich befürchtet hatte. Und so war es dann tatsächlich. Ich überging Brians Frage, warum ich ihn wegen des Films nicht zurückgerufen hatte, und wehrte Aarons Interesse an meiner Freundschaft mit Gracie ab, indem ich stattdessen einfach ihn ausquetschte. Ich nippte gelegentlich an meinem Bier und versuchte, einen interessierten Eindruck zu machen, während er von der Inventur in dem Autoteileladen erzählte, in dem er arbeitete. Plötzlich entde ckte ich im Eingang des Restau rants ein bekanntes Gesicht.
»Alice?«
»Nichts«, erwiderte ich, aber nicht schnell genug. Gracie drehte sich um und sah in die Richtung, in die ich gestarrt hatte. Und als ich sie nach Luft schnappen hörte, wusste ich, dass auch sie Deacon erkannt hatte.
»Geh da bloß nicht hin!«, warnte sie mich, als ich an den Rand der Sitzbank rutschte.
»Ich muss.« Ich dachte daran, wie ich ihn im Pub gesehen hatte und wie er verschwunden war. Und jetzt war er hier. Beobachtete mich. Verfolgte mich. Und ich hatte vor, dem ein Ende zu setzen.
Ich stand auf und lächelte die Männer an. »Ich muss gerade mal was mit einem Bekannten klären«, sagte ich und drehte mich um, bevor sie Fragen stellen oder protestieren konnten.
Bis ich im Eingangsbereich des R estaurants angekommen war, hatte Deacon sich wieder einmal verdrückt.
»Nein, nein, nein!«, murmelte ich. »Das gibt’s doch nicht!« Ich suchte die ganze Bar nach ihm ab, aber auch dort war er nicht. Dann entdeckte ich eine Doppeltür, die in einen Biergarten führte. Ich ging hinaus und stand auf einmal zwischen lauter mit Kerzen geschmückten Tischen. Trotz der kühlen Oktoberluft war es dank sorgfältig platzierter Gasheizpilze angenehm warm.
Ich blickte mich um und sah Deacon mit einer Bierflasche in der Hand am Tresen des Biergartens stehen. Ausdruckslos starrte er mich an, als ich auf ihn zuging.
»Dauernd haust du vor mir ab«, sagte ich in anklagendem Ton.
»Hier bin ich doch. Vielleicht stimmt mit deiner Wahrnehmung was nicht.«
»Warum verfolgst du mich?«, fragte ich. Der Barkeeper hinter dem Tresen legte den Kopf auf die Seite und starrte Deacon mit zusammengekniffenen Augen an.
»Macht der Typ dir Ärger?«
»Ich kann selbst auf mich aufpassen«, entgegnete ich und warf dem Barkeeper einen Blick zu, der ihn zurückschrecken ließ. Vermutlich nicht die höflichste Art, mit der
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