Erwachen
dir.«
Ich starrte in sein Gesicht und versuchte, die Wahrheit zu entdecken. Dabei fand ich mehr, als mir lieb war. Ich hatte nicht aufgepasst, und bevor ich es verhindern konnte, war ich drinnen, und dunkle Bilder breiteten sich in meinem Kopf aus, vermischt mit tiefer, verzweifelter Traurigkeit.
Ich riss mich los, voller Panik, dass er merken würde, was ich getan hatte, dass ich in seinem Kopf gewesen war.
Während mein Herz ängstlich pochte, hielt er einfach nur meine Hand. »Cherie«, sagte er. »Das wird schon wieder.«
Ich benetzte meine Lippen. Er hatte es nicht gemerkt. Ich war nur ganz kurz drin gewesen. Falls er etwas gespürt hatte, war ihm wohl nicht klar, was es war. »Und wie?«
Er strich mir über das Haar, und die Traurigkeit, die ich in seinen Augen gesehen hatte, klang jetzt auch in seiner Stimme durch. »Ich weiß es nicht. Manchmal fürchte ich, dass es nie wieder gut wird.«
Ich presste die Lippen aufeinander, überzeugt, dass ich gerade mehr von Zane mitbekommen hatte, als er preisgeben wollte. Ich legte den Kopf an seine Schulter und hätte ihn am liebsten gefragt, was los sei. Ich hätte gern etwas über seine Vergangenheit erfahren und auch über die Dämonen, die ihm Sorgen machten. Stattdessen fragte ich nur: »Und was soll ich jetzt tun?«
Er seufzte. »Du wartest.« Und dann ließ er mich dort stehen, allein mit den dunklen Gedanken, die mich beschäftigten. Ich schauderte, weil ich mich nicht mehr wohl in meiner Haut fühlte und verzweifelt hinter dem schwarzen Schleier in meinem Kopf nach der wirklichen Lily suchte.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort so stand und in einem Meer aus Angst unterzugehen drohte. Ich kam erst wieder richtig zu mir, als Clarence plötzlich vor mir stand, mit Augen, die wie üblich froschartig hervorquollen, den Filzhut tief in die Stirn gezogen. Mit anderen Worten: Er sah genauso hässlich und nervtötend aus wie immer.
Und ich war überglücklich, ihn zu sehen.
»Es ist die Essenz, Kleine«, sagte er ohne Vorrede. »Von allem, was du tötest, nimmst du ein bisschen von dessen Wesen in dich auf.«
»Danke«, antwortete ich, und meine Stimme troff nur so vor Sarkasmus. »Das habe ich bereits selbst rausgefunden. Würdest du mir erzählen, warum du das erst jetzt erwähnst?«
»Ich konnte dir nichts erzählen, solange ich mir nicht sicher war.«
»Was willst du damit sagen?«
»Du hast eine Prüfung bestanden, Kleine«, erwiderte er, hob die Hände und spreizte die Finger. »Herzlichen Glückwunsch!«
»Eine Prüfung?« Ich hatte es doch gerade mal geschafft, mich ermorden zu lassen. Die Sache mit der Wiederauferstehung war natürlich schon ein Ding, aber das hatte ich ja nicht gerade mit Absicht gemacht.
»Genau das«, erwiderte er.
»Bleib aus meinem Kopf weg! Und wovon genau redest du?«
»Das ist eines der Zeichen. Jener Zeichen, die beweisen, dass du das Mädchen aus der Prophezeiung bist.«
»Dass ich von den Toten zurückgekommen bin?«
»Dass du das Wesen derjenigen in dich aufsaugst, die du tötest. Du bist zweifelsohne unser Mädchen, Lily.«
Ich betrachtete ihn misstrauisch. »Ich dachte, das wussten wir bereits.«
Er zuckte lässig mit den Schultern. »Na ja. Ganz sicher kann man da eigentlich nie sein. Aber jetzt, würde ich sägen, sind wir es schon.«
Ich fuhr mir mit den Fingern durchs Haar. »Dann lass uns doch mal sehen, ob ich voll und ganz im Bilde bin, einverstanden?« Ich wartete gar nicht erst ab, bis er oder Zane zustimmend nickten. »Meine Aufgabe lautet: Dämonen töten.« Ich sprach langsam, als hätte ich es mit etwas zurückgebliebenen Erstklässlern zu tun. »Und Dämonen sind böse. Und wenn ich sie töte, sauge ich dieses Böse in mich ein.«
»Das ist eine ziemli ch brauchbare Zusammenfassung.«
»Aber ich dachte, ich würde Gelegenheit bekommen, all das, was ich getan habe, wiedergutzumachen? Eine Chance, dem Bösen im Namen von allem, was für Wärme und Geborgenheit steht, einen Arschtritt zu verpassen. Und jetzt stelle ich fest, dass ich ein R iesenvorratslager für böses Karma bin? Was zum Teufel habt ihr mit mir angestellt?«
»Glaubst du wirklich, du wärest ausgewählt worden, wenn wir nicht sicher wären, dass du damit umgehen kannst?«
»Damit umgehen? Womit umgehen? Mit dem Wissen, dass ich nach meinem Tod in der Hölle schmoren werde? Oh, halt, warte!
Sterben ist ja gerade das geringste meiner Probleme. Ihr habt meine Seele verdorben.«
Clarence trat so nah an mich heran, dass sein
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