Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Erwachen

Erwachen

Titel: Erwachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Kenner
Vom Netzwerk:
bekommen.
    Als ich sie wie eine Schlafwandlerin aus dem gelben Monster steigen sah, musste ich schlucken. Unter den Augen hatte sie dunkle Ringe, und sie wirkte noch gequälter als gestern, als sie an die Tür gekommen war. Die Mädchen, mit denen sie sonst zusammen gewesen war - die, die behauptet hatten, ihre Freundinnen zu sein -, liefen an ihr vorbei, als gäbe es sie überhaupt nicht.
    In gewisser Weise hatten sie recht. In dieser Hülle steckte nicht mehr meine Schwester. Ihren Körper hatte Johnson am Leben gelassen, aber tot war sie trotzdem.
    Genau wie ihre große Schwester.
    Ich wollte ihr helfen, aber ich wusste nicht, wie. Nicht, wenn sie in Gefahr geriet, sobald ich mich in ihr Leben schlich. Und das Wissen, dass ich nur hilflos zuschauen konnte, machte mich traurig und gab mir ein Gefühl von Unfähigkeit.
    Während ich dort stand, ging sie auf die Tür zu, blieb dann aber stehen, als könne sie meinen Blick spüren. Sie drehte sich in meine Richtung, und an ihrem Stimrunzeln sa h ich, dass sie mich erkannt hatte. Mein Herz setzte einen Moment lang aus, bis mir wieder einfiel, dass die Frau, die sie da erkannte, Alice war, die aufdringlich vor ihrer Haustür gestanden hatte. Lily war für immer aus Rose’ Leben verschwunden.
    Ich riss mich zusammen, bis sie die Tür geöffnet hatte und im Inneren der Schule verschwunden war, dann ließ ich meinen Tränen freien Lauf. Heiß rannen sie meine Wangen hinab, und die Schluchzer ließen meinen ganzen Körper beben.
    Ein paar Nachzügler vom Bus warfen mir neugierige Blicke zu, allerdings war ich nicht geneigt, mich beglotzen zu lassen wie ein Käfer im Glas. Jedenfalls nicht jetzt, während mein Herz in tausend kleine Teile zersprang. Rose war nur noch eine leere Hülle.
    Genau wie Lily Carlyle.
    Zutiefst deprimiert lief ich ziellos vor mich hin, ohne darauf zu achten, wohin mich meine Füße trugen.
    Sechs Blocks von meinem alten Zuhause, in der Nähe der kleinen katholischen Kirche, in die wir Heiligabend immer gegangen waren, machten sie Halt. Meine Mutter hatte uns nie zu einer bestimmten Glaubensrichtung gedrängt, aber ich hatte immer an Gott geglaubt. Ich hatte Vertrauen in die Welt gehabt, war überzeugt gewesen, das Gute würde das Böse besiegen, und hatte in der Sicherheit gelebt, dass Gott über uns wachte.
    Diesen Glauben hatte ich verloren, als meine Mutter starb. Und jetzt wurde mir bewusst, was für eine Leere das in mir zurückgelassen hatte.
    Als ich jetzt gegenüber dieser kleinen Kirche stand, musste ich an meine Mutter denken und daran, wie sie an Weihnachten immer mit uns hierhergekommen war. Joe war nie mitgegangen, aber davon hatte Mom sich nicht abhalten lassen. Wir waren immer auf der Empore gesessen, und ich konnte mich noch gut daran erinnern, wie unendlich ich mich gelangweilt hatte, bis die Messe endlich begann. Doch wenn dann der Chor zu singen anfing, fühlte sich das an, als würden die Stimmen mich gen Himmel tragen.
    Genau dieses Gefühl brauchte ich jetzt. Dieses Funkeln, wenn ein Mensch sich nach dem Göttlichen streckt. Bis jetzt waren die Himmelsgeschöpfe, die ich kennengelernt hatte, alle ganz schön weltlich gewesen. Sie hatten einen dermaßen ausgeprägten Sinn fürs Praktische, wie ich das niemals erwartet hätte, den ich aber zugegebenermaßen gut nachvollziehen konnte. Nachdem ich Rose’ Augen gesehen hatte, wurde mir die einfache Natur meiner Mission klarer als je zuvor: Rotte das Böse aus. In all seinen Erscheinungsformen, in all seinen Abstufungen. Mach es fertig, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen, egal, wessen Seele dabei unter die Räder gerät.
    Merz das Böse aus und mach den Weg frei, damit das Gute stolz und siegreich seinen Platz einnehmen kann.
    Ohne groß darüber nachzudenken, überquerte ich die Straße und ging auf die weiße Steinkirche zu. Ich legte den Kopf in den Nacken und sah zur Turmspitze hoch, die wie ein Pfeil den Weg gen Himmel wies. Bevor mir klar wurde, was ich tat, hatte ich bereits die Hand auf den massiven Messinggriff der Tür gelegt. Ich zog sie auf und sog tief den Geruch nach Öl und Wachs ein, in den sich ein Hauch von Gewürz mischte.
    Ich trat ein und fand mich in einem Eingangsraum mit einer weiteren Tür wieder. Nach kurzem Zögern öffnete ich auch diese und stand im Kirchenschiff.
    Ein paar Menschen beteten kniend, ihren Rosenkranz fest in der Hand. Niemand drehte sich um, um zu fragen, was ich wollte, also blieb ich einfach einen Moment lang stehen, schlang die Arme

Weitere Kostenlose Bücher