Erwachen
geschwollen war. Ich wollte schon fragen, woher das kam - welche Krankheit das verursacht hatte. Aber trotz ihrer Liebenswürdigkeit und meiner blank liegenden Nerven brachte ich es nicht über mich, derart unhöflich zu sein.
»Eine Krankheit wäre die einfache Antwort«, sagte sie und lächelte, was mir ein wenig meine Verlegenheit nahm. »Nein, es ist meine Gabe. Sie zehrt mich auf.«
»Sie sind Madame Parrish.«
»Die bin ich.«
»Was können Sie denn alles? Ihre Gaben, meine ich. Offensichtlich können Sie Gedanken lesen. Können Sie auch die Zukunft vorhersagen?«
Sie starrte mich an und hob langsam die Augenbraue. »Sie klingen so zweifelnd. Sie, die Sie bestimmt schon sehr viel Seltsameres gesehen haben.« Sie legte den Kopf auf die Seite und musterte mich prüfend. »Sie werden lernen, es unter Kontrolle zu halten.«
» Wie bitte? «
»Das, was Sie sehen. Es war ein unerwartetes Geschenk. Selbst der Schenkende wusste davon nichts. Ein Erbe Ihres Vorgängers. Aber Sie werden es lernen, meine Liebe. Es erfordert viel Übung und Konzentration und große Anstrengung, aber es ist möglich. Ich verspreche Ihnen, Sie werden es lernen.«
Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen und war mir plötzlich nicht mehr sicher, ob ich überhaupt hier sein und mit dieser Frau reden sollte, die genauso leicht wie Clarence Gedanken aus meinem Hirn herausgreifen konnte. Auch über meine Visionen wusste sie Bescheid und schien sie auch noch besser zu verstehen als ich selbst.
»Nicht besser. Ich sehe sie nur aus einer anderen Perspektive. Und vielleicht kann ich Ihnen helfen.«
»Ich wüsste nicht, wie.«
Sie lächelte mich sanft und großmütterlich an. »Sie wüssten zu gern, wie Sie Ihre Gedanken wegsperren könnten. Selbst jetzt wünschen Sie sich das.«
»Ich weiß, wie es geht«, erwiderte ich sturköpfig. »Kinderlieder. Wirken wie ein Zauber.«
»Manchmal. Vielleicht. Aber es gibt noch eine bessere Methode.«
Ich neigte den Kopf, unsicher, ob ich ihr trauen sollte, aber äußerst neugierig, was sie zu sagen hatte.
»Ein Geheimnishüter. Um Ihre Gedanken abzuschirmen, brauchen Sie einen Geheimnishüter.«
»Einen was?«
Aber sie lächelte nur. »Es ist schwierig, was Sie tun. Zwei Leute gleichzeitig sein.« Ich schnappte nach Luft, aber sie sprach unbeirrt weiter. »Das wird sich ebenfalls mit der Zeit ändern, und Sie werden nur noch eine Person sein.«
Ich sprang vom Stuhl hoch. »Tut mir leid, ich muss los.« Ich stürmte an ihr vorbei. »Ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich gekommen bin.«
»Oh, aber ich. Sie wollen wissen, ob Sie das Richtige tun. Das Richtige und aus dem richtigen Grund.«
Mit der Hand auf der Türklinke blieb ich stehen, dann drehte ich mich zu ihr um. »Tue ich das?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Diese Fragen nach richtig und falsch, nach gut und böse … Es gibt nicht nur Schwarz und Weiß. Manchmal treffen wir die falsche Entscheidung, wenn auch aus den richtigen Gründen.«
»Und meine Entscheidung? Ist die falsch?«
Sie lächelte, und die Falten in ihrem Gesicht wurden noch tiefer. »Meine Liebe. Darauf kann Ihnen nur die Zeit eine Antwort geben.«
27
Ich könnte nicht gerade behaupten, dass ich hin und weg war, als ich Clarence auf einem Klappstuhl vor meiner Wohnungstür sitzen sah. Die letzten zwei Stunden hatte ich bäuchlings auf einer Tätowierungsliege verbracht. Diese Erfahrung war sowohl schmerzhaft als auch überraschend entspannend gewesen. Ich hatte Stress abgebaut und Probleme gewälzt, und jetzt wollte ich nur noch vor dem Fernseher abhängen und mir hirnlose Sendungen reinziehen. Doch das konnte ich vergessen.
»Bist du darüber hinweg? Hast du deine Mitte gefunden? Alle Chakras wieder in R eih und Glied?«
Ich starrte auf ihn herab. »Wenn du wissen willst, ob es mir besser geht - ja. Vielen Dank auch der Nachfrage.« Ich überlegte, ob ich ihm verraten sollte, auf welch verschlungene Pfade mich meine Gedanken letzten Abend geführt hatten, aber eigentlich hatte ich keine Lust dazu. Wenn es ihn interessierte, konnte er sich die Informationen selbst aus meinem Kopf ziehen.
Er zuckte mit den Schultern, stand auf, klappte den Stuhl zusammen und klemmte ihn sich unter den Arm. Schließlich trottete er an mir vorbei und lehnte den Stuhl an den Tisch im Korridor. Ich zuckte zusammen. Das Aluminium würde ganz bestimmt den Lack zerkratzen. Sicherheitshalber hob ich den Stuhl zur Seite und fuhr mit dem Finger über das Holz. Alles
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