Erwachen
um meinen Körper und versuchte, mir darüber klar zu werden, was ich brauchte und wie ich es hier finden konnte.
An einer Wand stand ein Altar, davor flackerten Dutzende von weißen Kerzen. Fasziniert ging ich hinüber, ließ die Hand über die Flammen gleiten und genoss die Hitze, die durch meine Handfläche drang und sich im ganzen Körper ausbreitete.
»Alles in Ordnung mit Ihnen?«
Ich machte einen Satz, und als ich mich umdrehte, fand ich mich einem jungen Mann in Talar gegenüber.
»Würden Sie gern eine Kerze anzünden?«
Ich zog die Hand zurück, als hätte ich mich verbrannt, dann schüttelte ich den Kopf, und ein unerklärliches Schuldgefühl machte sich in mir breit.
»Ich sollte gar nicht hier sein. Ich hätte nicht kommen sollen.«
»Sie sind hier herzlich willkommen.«
»Nein. Ich meine, ich weiß. Ich …« Ich konnte die Worte einfach nicht aussprechen, weil sie von einer Erscheinung blockiert wurden: Ich war zu meinem Job geworden - eine Mörderin. Ein Werkzeug. Aber das war kein Job, den Lily erledigen konnte, und wenn ich an ihr festhielt, würde das meinen Tod bedeuten. Genau wie Clarence gesagt hatte: Ich musste sie loslassen. Schließlich war sie sowieso schon tot. Ich musste die alte Lily loslassen und die Frau finden, die sich dahinter verbarg. Eine Kämpferin. Eine Mörderin. Eine Frau, die dem Bösen die Stirn bieten und nicht mit der Wimper zucken würde. Die einstecken und mit allem fertigwerden konnte, die alles tief in ihrem Inneren begrub.
Eine Frau, die verstand, dass man für den endgültigen Sieg Opfer bringen musste.
Die Eine , hatte Clarence gesagt. Irgendwo in mir verbarg sie sich.
Und jetzt war es an der Zeit, dass ich sie zum Leben erweckte. Dass ich die letzten Überbleibsel von Lily opferte und die Mörderin in mir willkommen hieß. Sie willkommen hieß, sie benutzte und das Ganze hinter mich brachte.
Vernichte die Dämonen, versiegle die Pforte der Hölle, beschütze die Unschuldigen.
Wenn ich das tat, war Rose endlich in Sicherheit.
Wenn ich das tat, würde ich mein Versprechen endlich einlösen.
26
Gedankenverloren, aber mit geschärften Sinnen lief ich weiter durch die Straßen. Bis jetzt hatte ich nicht den Eindruck, dass mir jemand folgte. Vielleicht glaubten die Dämonen, ich sei tot.
Oder vielleicht formierten sie sich auch nur neu und planten den Angriff, der mich endgültig ins Jenseits befördern würde. Ich schauderte, denn allmählich mochte ich Alice’ Kopf recht gern, ganz zu schweigen vom regelmäßigen Schlag ihres Herzens. Eine unangenehme Richtung, die meine Gedanken da nahmen, aber dies war nun mal mein Leben. Ich war eine Kämpferin. Ein Schatten. Und ja, vielleicht war ich auch die, die das Gesamtbild ein bisschen verändern konnte. Ich war eine Waffe, hatte Clarence gesagt, und die Verantwortung, die mit dieser Aussage einherging, machte mir fürchterlich Angst. Vor allem jetzt, wo ich wusste, dass ich, je besser ich meine Aufgabe erledigte, umso mehr an Menschlichkeit verlor.
Nicht gerade eine ideale Situation, aber was war das schon? Lucas Johnson und Rose waren es nicht gewesen, und der Tod meiner Mom genauso wenig. Auch nicht, von einem durchgeknallten Arschloch in den Bauch gestochen zu werden. Nicht mal, ins Leben zurückgerufen zu werden, um Dämonen zu jagen.
Wie meine Großmutter zu sagen pflegte: Niemand hat je behauptet, das Leben sei gerecht. Und wenn Anpassung bedeutete, Dinge zu verdrängen - nun, das würde ich schon hinkriegen. Ich konnte den ganzen Mist beiseiteschieben, der nach jedem Mord in mich eindrang. Ich konnte ihn verbergen. Ihn wegsperren. Ihn einfach nicht zur Kenntnis nehmen. Ich würde mich auf Lily konzentrieren. Nicht die, die ich einmal gewesen war, sondern die, die ich jetzt war. Auf sie würde ich mich konzentrieren, und den Rest würde ich bekämpfen.
Und ich wusste, dass ich das konnte. Hatte ich das nicht mein ganzes beschissenes Leben lang getan? Ein Schattendasein voller Verluste, und jeden Cent hatte ich auch dreimal umdrehen müssen. Aber ich hatte mich nie aufgegeben. Und immer hatte ich Rose gehabt, die mir wie ein helles Licht den Weg gewiesen hatte.
Ich hatte sie immer noch. Es ging doch darum, die Welt zu retten, nicht wahr? Die Welt und alle ihre Bewohner.
Inzwischen war es helllichter Tag, und die Sonne bildete einen krassen Gegensatz zu meinen trüben Gedanken. Ich hatte das Geschäftsviertel hinter mir gelassen und wanderte durch Seitenstraßen, bis ich eine Gegend der Stadt
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