Erwachen
erreicht hatte, wo selbst die hellsten Sonnenstrahlen die Dunkelheit nicht vertreiben konnten. Hier hingen die Entrechteten rum, jene Menschen, die reif dafür waren, sich vom Bösen anwerben zu lassen, so wie der Mensch, den ich in der Gasse getötet hatte, weil er zu spät um Hilfe gebeten hatte. Hier waren die Obdachlosen, die Verlorenen. Männer und Frauen, die die Gesellschaft aufgegeben hatte. Sie drückten sich in den Eingängen der Läden herum, in denen Alkohol verkauft wurde, schlichen sich in Sexshops und machten durch halb offene Wagenfenster Geschäfte.
Ich hätte ihnen am liebsten zugerufen, sie sollten ja ihre Mitte nicht verlieren. Ja nicht den einfachen Weg wählen, niemandem vertrauen, der behauptete, er könne ihnen helfen. Aber ich tat es nicht. Ich sagte kein Wort. Wer war ich denn schon, dass ich den Verdammten einen Rat hätte erteilen können?
Im Vorbeigehen nahm ich das Schild über einem Laden wahr, dessen farbige Buchstaben eine Botschaft aussandten, die ich nicht gleich kapierte. Als es endlich Klick machte, blieb ich stehen. Ich wandte mich um und suchte nach dem Geschäft, dessen Bedeutung schließlich doch noch in mein umnebeltes Gehirn eingedrungen war.
Etwa zwanzig Meter die Straße hinunter wurde ich fündig. Ein rotes Neonschild verkündete Tattoos , und ein kleineres, handgeschriebenes Schild darunter informierte den werten Kunden, dass der Künstler vor Ort sei. Als weiteren Pluspunkt teilte sich Madame Parrish, Medium, den Laden mit dem Tätowierer. Vermutlich bot sie ihre Dienste all jenen an, die wissen wollten, wie ihre Mutter, ihr Vater, ihr Liebhaber oder ihr Freund auf das Ergebnis künstlerischen Schaffens reagieren würden, das unser furchtloser Kunde mit nach Hause bringen würde.
Eine halbe Minute blieb ich unentschlossen vor der Tür stehen und rief mir in Erinnerung, dass dreckige Nadeln Infektionen verursachten, die Tinte vermutlich von schlechter Qualität und die Entfernung von Tätowierungen ein verdammt schmerzhafter Prozess war. Ich musste es schließlich wissen. Ich hatte mir »Jimmy« und ein Herz entfernen lassen, und das im reifen Alter von neunzehn Jahren.
Ungeachtet dieser Erfahrung zog ich die Tür auf und trat ein.
Die Dunkelheit im Inneren des Ladens war ein Schock, und es dauerte einen Moment, bis sich meine Augen an die Lichtverhältnisse angepasst hatten. Doch dann sah ich, dass der hintere Teil des Ladens heller erleuchtet war. Dort beugte sich hinter einem Perlenvorhang ein Typ mit langem Pferdeschwanz über die halbnackte Brust einer Frau. Er wandte die Aufmerksamkeit nicht von seiner Kundin ab, ehe er die Nadel ausgeschaltet hatte. Erst dann blickte er in meine Richtung.
»Hallo. Ich brauche noch etwa fünf Minuten. Willst du ‘n Tattoo?«
»Ja«, erwiderte ich, ohne zu zögern. »Genau.«
»Cool! Hast du schon ‘ne Vorstellung, wie’s aussehen soll?«
»Ich will einen Namen. Vielleicht auch ein Bild. Was, weiß ich noch nicht.«
»Sieh dich um. Alles in den Büchern da beim Fenster kann ich dir machen. Der Preis steht dabei.«
Ohne meine Antwort abzuwarten, wandte er sich wieder dem Mädchen zu, also blieb mir nichts anderes übrig, als mich mit den Büchern zu beschäftigen. Ich sah mir gerade komplizierte Engelentwürfe an, als ich hinter mir eine Bewegung spürte.
Ich drehte mich um in der Überzeugung, es sei der Typ oder seine Kundin. Stattdessen stand mir eine Frau gegenüber, die weit über achtzig sein musste.
»49«, sagte sie. »Aber Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen«, fügte sie hinzu, bevor mir überhaupt klar wurde, dass ich meine Bemerkung doch gar nicht laut ausgesprochen hatte.
»Noch eine«, murmelte ich und überlegte bereits, ob ich nicht lieber zum nächsten Tätowierstudio gehen sollte.
»Er würde mir nie verzeihen, wenn ich Sie verscheucht hätte«, sagte die Frau. Sie ging in eine dunkle Ecke und ließ sich auf einem fleckigen Samtsessel nieder. »Bitte, setzen Sie sich doch.«
Ich beäugte den harten Klappstuhl ihr gegenüber und hörte sie auflachen.
»Ich bin diejenige, die auf neunzig zugeht. Meine Knochen brauchen die Kissen.«
»Es tut mir wirklich leid«, murmelte ich, angezogen von ihrer lässigen Art, bei der ich mich fast schon wie zu Hause fühlte. »Ich hätte das niemals laut gesagt.«
»Natürlich nicht. Sie sind ein braves Mädchen.« Sie beugte sich vor, um mir die Hand zu streicheln, und als sie lächelte, sah ich, dass ihre Zähne braun verfärbt und ihr Zahnfleisch rot und
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