Erwachende Leidenschaft
wirklich?« fragte er, lehnte sich an die Tischkante und wartete auf ihre Antwort.
»Ich habe heute morgen einen Brief von der Mutter Oberin bekommen, und ich habe plötzlich großes Heimweh.«
Colin ließ keine Reaktion erkennen. »Ich habe momentan nicht genug Zeit …«
»Stefan und Raymond werden mich sicher begleiten«, unterbrach sie ihn. »Ich habe nicht erwartet, daß du mitkommst. Ich weiß, wieviel du zu tun hast.«
Er spürte, wie er wütend wurde. Allein der Gedanke daran, daß seine Frau sich ohne ihn auf solch eine Reise begeben wollte, entsetzte ihn. Er konnte sich gerade noch beherrschen, ihr den Wunsch sofort abzuschlagen, denn er hatte durchaus bemerkt, wie traurig sie war. Und in ihrem Zustand bereitete ihm das ziemliche Sorgen.
Aber sie konnte nicht bei Sinnen sein, wenn sie glaubte, er würde sie jemals allein irgendwo hingehen lassen.
Er beschloß, es mit Vernunft zu versuchen. »Alesandra …«
»Colin, du brauchst mich nicht.«
Diese absurde Bemerkung traf ihn wie ein Schlag. »Zum Teufel mit ich brauche dich nicht«, entgegnete er fast brüllend.
Sie schüttelte den Kopf. Er nickte. Dann drehte sie ihm den Rücken zu.
»Du hast mich nie gebraucht«, flüsterte sie.
»Alesandra, setz; dich.«
»Ich will mich nicht setzen.«
»Ich will mit dir über diese …« Er hätte fast gesagt »alberne Bemerkung«, konnte sich aber noch rechtzeitig beherrschen.
Sie ignorierte ihn und starrte weiterhin aus dem Fenster.
Sein Blick fiel auf den Stapel Papiere auf ihrem Tisch, und plötzlich wußte er, was er zu tun hatte. Schnell suchte er die Liste mit seinem Namen.
Sie achtete nicht auf ihn. Er faltete das Papier zusammen und steckte es in seine Tasche. Dann gebot er ihr noch einmal, sich zu setzen, und diesmal war seine Stimme härter und ließ keinen Widerspruch zu.
Sie ließ sich Zeit, zu gehorchen. Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen und ging endlich zum Bett hinüber. Sie setzte sich, faltete die Hände im Schoß und senkte den Kopf.
»Liebst du mich plötzlich nicht mehr?«
Er hatte es nicht geschafft, die Angst aus seiner Stimme herauszuhalten, und sie war so überrascht, daß sie den Kopf hob und ihn ansah. »Natürlich liebe ich dich noch.«
Er nickte, erfreut und erleichtert. Er stieß sich vom Schreibtisch ab und stellte sich vor sie.
»Es gibt keinen Onkel Albert, nicht wahr?«
Der abrupte Themawechsel verwirrte sie. »Was hat Onkel Albert mit meiner Bitte zu tun, nach Hause zu wollen?«
»Verdammt, das hier ist dein Zuhause.«
Wieder senkte sie den Kopf, und er bedauerte sofort, daß er seinem Ärger so deutlich Luft gemacht hatte. »Bitte verzeih mir, Alesandra, und antworte auf meine Frage.«
Sie kämpfte eine lange Weile mit sich, ob sie ihm die Wahrheit sagen sollte. Dann: »Nein, es gibt keinen Onkel Albert.«
»Das dachte ich mir.«
»Warum dachtest du es dir?«
»Es gab nie irgendwelche Briefe, die von dem Mann hierhergeschickt wurden, und doch hast du Caine gesagt, du hast eine Nachricht von ihm bekommen. Du hast ihm etwas vorgemacht, und ich denke, ich weiß, warum.«
»Ich habe wirklich keine Lust, darüber zu reden. Ich bin irgendwie müde heute. Es ist ja auch schon spät, fast zehn.«
Er dachte nicht daran, sie so einfach davonkommen zu lassen. »Du hast heute nachmittag vier Stunden geschlafen«, rief er ihr in Erinnerung.
»Ich hatte auch einiges aufzuholen«, erwiderte sie.
»Dreyson nimmt keine geschäftlichen Aufträge von einer Frau an, richtig? Also hast du diesen Onkel Albert erfunden, der passenderweise dieselben Initialen wie du benutzen kann.«
Sie hatte keine Lust mehr, etwas abzustreiten. »Ja.«
Er nickte wieder. Dann verschränkte er die Hände hinter dem Rücken und runzelte die Stirn. »Du versteckst also deine Intelligenz, nicht wahr, Alesandra? Offenbar hast du ein Gespür für den Markt, aber anstatt mit deiner Klugheit bei Investitionen zu prahlen, erfindest du einen Mann, der die Lorbeeren einheimsen kann.«
Sie hob den Kopf, um seinem düsteren Blick zu begegnen. »Männer hören auf andere Männer«, verkündete sie. »Eine Frau darf derartige Interessen nicht haben. Das ist nicht damenhaft. Und es ist nicht bloß ein Gespür, Colin. Ich lese die Zeitung und höre auf Dreysons Vorschläge. Es braucht keinen brillanten Verstand, um sich von seinen Ratschlägen leiten zu lassen.«
»Würdest du zumindest zustimmen, daß du einigermaßen intelligent bist und die meisten Dinge logisch durchdenken
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