Erwachende Leidenschaft
gewesen. Sie verdiente es nicht, bei den anderen zu schlafen. Er warf die Leiche in eine Schlucht und überließ sie den wilden Tieren.
Er brauchte eine Lady.
Als Alesandra am nächsten Morgen hinunterkam, war Colin bereits fort. Flannaghan und Raymond saßen mit ihr am Eßtisch, während sie den Stapel von Einladungen durchging, die an diesem Morgen eingetroffen waren. Stefan schlief, weil er die Nachtwache übernommen hatte. Alesandra hielt es nicht für nötig, daß jemand die ganze Nacht aufblieb, aber Raymond, der ältere von beiden, ließ nicht mit sich reden. Für den Fall, daß es Ärger gab, mußte immer jemand auf der Hut sein, argumentierte er, und da sie ihn ja eingestellt hatte, sollte sie ihn auch am besten seine Arbeit tun lassen.
»Aber wir sind doch jetzt in England«, rief sie ihm nochmal in Erinnerung.
»Man darf den General nicht unterschätzen«, erwiderte Raymond. »Wir sind auch hergekommen, nicht wahr? Wieso sollte er nicht mit dem nächsten Schiff ein paar Männer schicken?«
Also gab es Alesandra auf, mit dem Soldaten zu streiten, und wandte sich wieder den Einladungskärtchen auf dem Tisch zu.
»Ich finde es erstaunlich, daß so viele Leute in so kurzer Zeit herausgefunden haben, daß ich in London bin.«
»Mich überrascht das nicht«, gab Flannaghan zurück. »Ich habe von der Köchin gehört, die es vom Fleischer hat, daß Sie ziemlichen Aufruhr verursacht haben. Leider gibt es auch ein bißchen Klatsch, weil Sie bei uns wohnen, doch die Tatsache, daß Sie eine Zofe und zwei Wachen mitgebracht haben, hat dem Gerede die Schärfe genommen. Übrigens gibt es da auch ein ziemliches lustiges Gerücht … Unsinn, eigentlich …«
Alesandra war gerade dabei, einen Brief aus einem Umschlag zu ziehen, als sie innehielt. »Was für ein Unsinn denn?«
»Ein paar Leutchen glauben, Sie und mein Herr seien verwandt«, erklärte Flannaghan. »Es heißt, Colin sei Ihr Cousin.«
»Ja, Neil Perry hat das erwähnt«, sagte sie. »Er hat auch erwähnt, daß einige Colin für meinen Liebhaber halten.«
Flannaghan war gebührend entsetzt. Sie tätschelte ihm beruhigend die Hand. »Schon gut. Die Leute glauben immer das, was sie glauben wollen. Armer Colin. Er kann meine Gegenwart ja kaum ertragen, und wenn mich jetzt jeder als seine Cousine behandelt, dann weiß der Himmel, wie er reagiert.«
»Wie kommen Sie denn auf so eine Idee?« fragte Flannaghan. »Mylord ist überglücklich, Sie bei uns zu haben.«
»Ich bin beeindruckt, Flannaghan.«
»Was? Wieso?«
»Sie haben mir, ohne mit der Wimper zu zucken, eine fette Lüge erzählt.«
Flannaghan lachte nicht, bis sie grinste. »Nun, er wäre sicher überglücklich, wenn er sich nicht so viele Sorgen um seine Geschäfte machen würde«, bemerkte er.
Alesandra nahm an, daß er versuchte, sein Gesicht zu wahren. Sie nickte, tat so, als ob sie ihm glaubte, und wandte sich dann wieder ihrer Arbeit zu. Flannaghan bot an, ihr zu helfen, und sie übertrug ihm die Aufgabe, ihr Siegel auf die Umschläge zu drücken. Flannaghan betrachtete das merkwürdige Wappen. Es zeigte die klaren Umrisse eines Schlosses, auf dessen einem Turm ein Adler oder ein Falke saß.
»Hat das Schloß auch einen Namen, Prinzessin?« fragte er.
»Es heißt Stone Haven. Meine Eltern haben dort geheiratet.«
Sie beantwortete jede Frage, die er stellte. Flannaghans freundliche Grundstimmung hob ihre eigene. Er wirkte so ungläubig, als sie ihm erzählte, sie besitze nicht eins, sondern zwei Schlösser, daß sie lachen mußte. Er war wirklich ein erfreulicher Mensch.
Sie arbeiteten den ganzen Morgen zusammen, und als die Uhr eins schlug, ging Alesandra hinauf, um sich umzuziehen. Sie erklärte Flannaghan, daß sie noch mehr Besuch erwartete und möglichst perfekt aussehen wollte.
Flannaghan fand nicht, daß sie dazu etwas anderes anziehen mußte. Es schien einfach nicht möglich, daß sie noch schöner aussehen konnte, als sie es ohnehin schon tat.
Colin kam gegen sieben Uhr abends zurück. Er war gereizt und steif von den vielen Stunden der Schreibtischarbeit. Die schweren Bücher trug er unter dem Arm bei sich.
Er fand seinen Butler auf der Treppe hingestreckt, als Raymond ihm die Tür öffnete.
Flannaghan sah völlig erledigt aus. »Was ist denn mit dir los?« fragte Colin.
Der Butler riß sich aus seiner Lethargie und stand auf. »Wir hatten heute wieder Gäste. Die Prinzessin hat mich überhaupt nicht vorgewarnt. Ich mache ihr keinen Vorwurf, und natürlich hat sie
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