Erwachende Leidenschaft
vorsichtig zu sein. Während er nervös zusah, löste sie die Zugbrücke und reichte ihm dann das Modell.
»Sie waren immer schon da drin«, erklärte sie mit einem sanften Flüstern. »Sieh hinein, Onkel Henry. Da sind deine Schuldscheine.«
Er schien nicht begreifen zu wollen, was sie ihm sagte. Mit einem verblüfften Gesichtsausdruck starrte er sie an.
»All die Jahre …« Seine Stimme brach, und ein Schleier zog sich über seine Augen.
»Vater liebte es, seinen Willen zu bekommen«, erklärte Alesandra leise. »Er bestand darauf, daß es ein Geschenk war. Du wolltest es unbedingt als Darlehen betrachten. Mutter erzählte mir, du hättest verlangt, die Schuldscheine zu unterschreiben, und Vater tat, als würde er deinem Wunsch nachkommen. Aber er lachte zuletzt und am besten, als er dir dieses Schloß als Geschenk machte, Onkel.«
»Mit den Schuldscheinen.«
Sie legte ihm die Hand auf den Arm. »Die Scheine sind in deinem Besitz«, sagte sie. »Und daher solltest du endlich akzeptieren, daß deine Schuld getilgt ist.«
Ihr Vormund hielt das Schloß hoch und blickte hinein. Die gefalteten Papiere darin waren nicht zu übersehen. »Die Schuld ist getilgt, wenn du meinen Sohn heiratest«, bemerkte er.
Er konnte nicht ahnen, wie sehr diese Worte sie berührten. Seine Aufmerksamkeit war dem Schloß zugewandt, weswegen ihm ihr Gesichtsausdruck entging.
Sie wandte sich um und verließ den Salon. Im Foyer kam sie an Tante Gweneth vorbei, traute ihrer Stimme jedoch nicht genug, um mit ihr zu reden.
Gweneth eilte in den Salon, während Alesandra die Treppe hinaufrannte.
»Henry, was hast du zu dem Kind gesagt?« wollte sie wissen.
Henry winkte sie an seine Seite. »Alesandra geht es gut, Gweneth. Sie hatte nur ein wenig Heimweh nach ihren Eltern, das ist alles. Laß sie eine Weile in Ruhe. Sieh dir das an«, sagte er abschließend, wobei er sich wieder auf die Papiere in der Miniatur konzentrierte.
Für den Moment war Alesandra vergessen. Sie war dankbar dafür, daß ihr niemand nachkam. Sie lief in das Arbeitszimmer ihres Onkels, schloß die Tür und brach prompt in Tränen aus. Sie weinte eine lange Zeit, und nur, weil sie sich selbst entsetzlich leid tat. Sie wußte genau, wie kindisch und wie jämmerlich sie sich benahm, aber es kümmerte sie überhaupt nicht.
Als sie endlich zu weinen aufhörte, fühlte sie sich auch nicht besser. Ihre Nerven lagen durch Sorge und Verwirrung immer noch ziemlich bloß.
Dreyson erschien eine Stunde später. Sie unterzeichnete die Papiere, die er vorbereitet hatte, und lauschte seinem endlosen Diskurs über die Transaktionen ihres Vermögens von der Heimat ihres Vaters auf die Bank of England. Der Agent, den Dreyson damit beauftragt hatte, schien Schwierigkeiten zu haben, das Geld dort loszubekommen, aber Dreyson versicherte ihr, daß sie sich keine Sorgen zu machen brauchte. Es würde nur Zeit und Geduld bedürfen.
Alesandra konnte sich kaum auf finanzielle Angelegenheiten konzentrieren. Sie ging an diesem Abend früh zu Bett und betete vorher für genug Kraft, um die nächsten drei Tage zu überstehen.
Die Zeit verging schnell, denn Tante Gweneth hielt sie mit Hochzeitsvorbereitungen beschäftigt. Ohne das Wissen ihrer Familie lud Gweneth einige wenige enge Freunde zu der Feier ein – nur achtunddreißig im ganzen –, und es gab derart viel zu tun, daß Alesandra kaum mit ihren Aufgaben nachkommen konnte. Für die Tische mußten Blumen bestellt und das Essen für das formelle Dinner geplant werden. Dann brauchte sie ein Kleid, das von der übellaunigen, aber unglaublich kreativen Millicent Norton genäht werden sollte. Die Schneiderin und ihre drei Gehilfinnen hatten eines der größeren Zimmer im dritten Stock bezogen und arbeiteten rund um die Uhr mit Nadel und Faden an den vielen Ellen importierter Spitze, die Millicent Norton für eben solch eine Gelegenheit gehortet hatte.
Wenn Alesandra nicht zur Anprobe gebraucht wurde, befaßte sie sich mit der Aufgabe, die Tante Gweneth ihr übertragen hatte: die Hochzeitsanzeigen zu schreiben. Sie hatte über zweihundert Namen auf ihrer Liste, was bedeutete, daß auch über zweihundert Umschläge adressiert werde mußten, und Gweneth bestand darauf, daß sie unmittelbar nach Alesandras und Colins Eheschließung versandt würden.
Alesandra verstand die ganze Aufregung nicht. Sie glaubte, daß nur die nächsten Familienmitglieder, Sir Richards und der Geistliche anwesend sein würden, und fragte ihre Tante, warum der ganze
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