Erwählte der Ewigkeit (German Edition)
Anzug von der Stange trug. Er roch immer noch schwach nach Kerosinabgasen, offenbar war er im Fluggepäck gewesen. Er trug keinen Ehering, aber sie brauchte nicht nachzusehen, um zu wissen, dass sie seinen schwachen hellen Umriss in der Sonnenbräune finden würde, die wahrscheinlich von einem Besuch in Disney World mit der Familie vor nicht allzu langer Zeit stammte.
»Geschäftlich in Boston?«, fragte sie.
Er stellte seine leere Bierflasche auf dem Tresen ab und drehte sich auf seinem Hocker zu ihr um. »Vertretertagung hier im Hotel in den nächsten paar Tagen. Bin diesen Nachmittag angekommen.«
Tavia lächelte ihm angespannt zu und widerstand nur knapp dem Drang, ihre Fänge blitzen zu lassen. »Sie lassen ja nichts anbrennen. Weiß Ihre Frau, dass Sie sie betrügen, wenn Sie auf Geschäftsreise sind?«
Er erstarrte. »Meine … was zur Hölle wissen Sie von meiner Frau?«
Sie grinste in ihren Teller, als er sich verärgert von seinem Barhocker gleiten ließ und davonstapfte, um sich zu seinen Kollegen zu gesellen.
Wieder allein, konnte Tavia sich ein leises Lachen nicht verkneifen. Ihr neues Leben als Stammesvampirin mit übernatürlich scharfen Sinnen hatte durchaus seine amüsanten Seiten. Sie winkte nach der Rechnung und kramte in ihrer Jeans nach ihrem Geld. Bevor sie heute das Haus verlassen hatte, hatte sie die zweihundert Dollar Notreserve aus der Küchenschublade mitgenommen. Die würde schließlich niemand vermissen. Lange würden sie allerdings nicht reichen, und dann musste sie sich etwas anderes überlegen.
Sie fühlte sich schon schuldig genug, dass sie sich einfach selbst ein Zimmer genommen hatte, als das Hotel ihr ohne Kreditkarte und Ausweis keines geben wollte. Es war kinderleicht gewesen, mental ein leeres Zimmer direkt neben dem Treppenhaus aufzuschließen, ein Fluchtweg, falls ein legitimer Hotelgast mit einem Zimmerschlüssel kam und sie schnell verschwinden musste.
»Darf’s sonst noch etwas sein?«, fragte der Barmann, als er mit der Rechnung herüberkam.
Tavia schüttelte den Kopf. »Nein danke.« Sie warf einen Blick auf die Rechnungssumme und gab ihm ein großzügiges Trinkgeld. Jetzt, wo die Bar sich mit einem Dutzend weiterer Geschäftsmänner füllte, die nach billigem Bier, Zigaretten und schlechtem Rasierwasser rochen, wollte sie lieber von hier verschwinden.
Sie glitt vom Barhocker und kam kaum durch die Menge in der Lounge, die sich jetzt immer mehr füllte. Die Leute bewegten sich auf einen Flachbildschirm zu, der am anderen Ende der Bar an der Decke montiert war. Sie dachte schon, dass gleich ein wichtiges Spiel übertragen wurde, bis mehrere der versammelten Männer, die gebannt auf den Fernseher starrten, sich mit großen Augen bekreuzigten.
»Verdammt«, murmelte jemand düster. »Drehen Sie doch mal laut, ja?«
Die Lautstärke wurde voll aufgedreht, und Tavia starrte entsetzt auf die Liveübertragung eines europäischen Nachrichtensenders. Der Reporter sprach Deutsch, aber man musste die Sprache nicht können, um zu erfassen, was gesagt wurde. Die Szene, die hinter ihm in mehreren simultanen Videoübertragungen gezeigt wurde, war das absolute Chaos.
Schreiende, weinende Menschen rannten um ihr Leben durch die dunklen Straßen einer Stadt. Wilde Maschinengewehrsalven ertönten in der Ferne. Von Geschäften und Hochhäusern stieg Rauch auf. Mitten auf den Straßenkreuzungen standen verlassene Autos, alle Türen geöffnet, das Metall verbogen und zerquetscht von einer so brutalen Kraft, wie die Menschheit sie noch nie zuvor gesehen hatte.
Und die Leichen. Es waren Dutzende, und sie lagen wie zerbrochene, blutüberströmte Puppen herum.
Der Reporter redete weiter, seine Stimme versagte vor Bewegtheit, und er versuchte, die Tränen zurückzuhalten, während seine Stadt vor den Augen der ganzen Welt geplündert wurde. Am Ende verlor er die Fassung. Er schluchzte auf, und in dem Augenblick, bevor er sich in einem unverständlichen Heulen des Entsetzens auflöste, hallte ein Wort in Tavias Herzen wider wie ein Schrei.
»Vampire.«
Lucan spürte seine Beine nicht mehr.
Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich völlig machtlos. Er stand im großen Saal des provisorischen, unzureichend ausgerüsteten Hauptquartiers, hatte das Telefon auf Lautsprecher gestellt und hörte gemeinsam mit dem Rest des Ordens Andreas Reichens Bericht aus Berlin zu.
Zu Sonnenuntergang hatten sich die Reha-Einrichtungen der Agentur in ganz Europa geöffnet und Hunderte
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