Erwarte mich in Paris (German Edition)
„Wo soll ich mich umziehen?“ Ich sah mich in dem großen Raum um. Nirgends war ein Paravent oder etwas Ähnliches zu sehen.
„Hier! Oder hast du etwas zu verbergen?“ Er nahm mit einer langsamen Bewegung die Brille ab und musterte mich. In meinen Kragen fallende Eiswürfel hätten keine stärkere Wirkung haben können. Ich spürte, dass er mich herausfordern wollte, abchecken und, im besten Fall, beschämen oder demütigen. Doch das würde ich nicht noch einmal zulassen.
Mit einer Bewegung, in die ich bewusst keine Koketterie legte, öffnete ich das Hemd und ließ es zu Boden fallen. Ich stellte mir dabei einfach vor, ich wäre allein. Das machte es mir leichter. Meine Schuhe kickte ich von meinen Füßen. Einer flog einen Bogen bis zu einem Fotostativ, der andere landete vor Alains Füßen. Die Hose zog ich gemeinsam mit meiner Unterwäsche herunter. Halb abgewandt stand ich vor ihm und versuchte erst gar nicht, meine Blöße vor ihm zu verstecken. Ich sah Alain nicht an. Sollte er mich mit seinem Eisblick durchbohren, wenn er sich etwas davon versprach. Mir war es einerlei!
Ohne Eile nahm ich die Badehose und stieg hinein. Dieses Mal versuchte ich erst gar nicht, sie bis zu meinem Nabel zu ziehen.
Zu meinem Bedauern hatte Alain sogar an die monströsen, schwarzen Flügel gedacht. Etwas unwohl in meiner Haut, stellte ich mich vor eine weiße Fotowand.
Alain griff nach einem Glas, in der sich eine klare, braune Flüssigkeit befand. Träge bewegte sie sich hin und her.
„Kennst du den Film „Michael“ mit John Travolta?“ Alain sprach, ohne mich anzusehen.
„Warum? Möchten Sie mich ins Kino einladen?“ Meine Antwort klang trotzig.
Doch Alain lächelte nur leicht. „Vielleicht.“ Dann wurde er ernst. „Los, beginnen wir.“
Er trat an das Kamerastativ und sah durch den Sucher. Seine Ansagen waren knapp und präzise: „Dreh dich nach links - Blick nach oben - zu mir.“ Unablässig betätigte er den Auslöser der Kamera. Kein einziges Mal kritisierte er mich oder gab mir das Gefühl, ein Anfänger zu sein. Die Zeit verging wie im Flug. Als er sich umdrehte, um sich ein neues Glas einzuschenken, erwachte ich wie aus einem Traum.
„Wir machen das Gleiche noch einmal, mit dunklem Hintergrund.“ Er betätigte ein Bedienungsfeld an der Wand und blickdichte Jalousien schoben sich über die Glasflächen des Daches.
Mittlerweile hatte die Dämmerung eingesetzt. Wir mussten schon länger in die Arbeit vertieft gewesen sein, als ich dachte. Alain zog eine schwarze Leinwand herunter und gab mir mit einer Handbewegung zu verstehen, dass ich mich davor zu stellen hatte. Er richtete einige Scheinwerfer aus, so dass ihr Licht auf mich fiel. Dann begannen dieselben Ansagen wie gerade eben. „Dreh dich nach links - Blick nach oben …“ Alain schien sogar die gleichen Worte, in derselben Reihenfolge zu verwenden.
„Hast du Hunger?“
Die Frage kam so unvermittelt, dass ich ohne nachzudenken verneinte. Mein Magen jedoch gab augenblicklich ein protestierendes Knurren von sich.
„Ist ein wenig Käse in Ordnung?“ Mit wehendem Morgenmantel rauschte er aus dem Zimmer. Er wartete meine Antwort nicht ab. Nebenan hörte ich ihn telefonieren.
„Jean, bring mir das übliche. Ja, aber für Zwei“, sagte er. Als er wieder ins Zimmer trat, wies er auf meine Flügel. „Die kannst du jetzt ablegen.“ Dann warf er mir einen weißen Bademantel zu. Er sah mir stumm dabei zu, wie ich mich umzog.
„Du wirst einen neuen Typus in Mode bringen. Du hebst dich von diesen dürren, androgynen Jungs ab. Trainierst du?“
„Ich renne viel, wenn es sich nicht verhindern lässt …“ Ich verstummte augenblicklich.
„Wenn etwas schief läuft und du schnell weg musst?“ Er sah mich mit hochgezogener Augenbraue an. „Christin hat es mir erzählt. Du bist kein Rumäne oder Spanier, wie ich erst dachte, du bist ein Gitan, ein Zigeuner.“
Trotzig sah ich ihn an.
„Ich bevorzuge die Bezeichnung …“
„Wie auch immer“, unterbrach er mich und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich weiß, wer du bist. Ich kann dein Inneres sehen.“
„Ach ja? Und was sehen Sie?“ Fast erwartete ich, dass er so tun würde, als hätte er mich nicht gehört.
„Tiefe und ein Meer von Emotionen“, überraschte er mich mit einer Antwort. „Du bist fähig zu weitreichenden, tiefen Gefühlen.“
Er ließ die beiden Sätze einfach im Raum
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