Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
den eigenen Sohn zu opfern. Aber Freunde, ich sage euch: Wir brauchen nicht länger das Kreuz der Roma zu tragen, denn ich habe von Gott eine Botschaft empfangen. Ich will euch zeigen, wie wir von nun an als die leben können, die wir eigentlich sind.«
Von dem Moment an hörte Marco nicht mehr zu. Worauf konnte er sich denn jetzt noch verlassen? War das Leben, das sie führten, etwa nicht das der Roma? Hatten sie die Demütigungen der Landbevölkerung umsonst und grundlos immer wieder ertragen müssen? Wenn die Menschen sie verflucht und zur Seite gedrängt hatten, hatten sie das für etwas getan, was überhaupt nicht auf sie zutraf?
In jenen Minuten gelang es Zola, Marco alles zu nehmen, was sein Leben bisher zusammengehalten hatte. Jetzt gab es keine Gewissheiten mehr, und auch wenn er jeden Tag seines bisherigen Lebens gehasst hatte: Jetzt hatte er nichts mehr.
Marco stand auf und sah sich um. Er wusste genau, dass er seinem Kopf trauen konnte und dass er intelligenter war als die meisten hier. Aber dass Wissen und Erkenntnis so schmerzen konnten, hatte er bisher nicht gewusst.
Wer waren sie denn? War Zola, der sich Onkel nannte, vielleicht gar nicht der Bruder seines Vaters? Und waren seine Cousins vielleicht einfach nur irgendwelche Jungs?
Wenn das wirklich stimmte, wo war dann seine richtige Familie? Wer waren sie?
Für Marco war der Tag, den eine Zeitung einmal als den langweiligsten Tag der Welt bezeichnet hatte, der Tag, an dem sich das Schlimmste ereignet hatte, was ihm widerfahren konnte: Zolas Geburt. Zola war der Teufel in Menschengestalt. Er, der Führer ihres Clans, zwang sie zu betteln und zu stehlen, er schlug und quälte sie, er verbot ihnen, die Schule zu besuchen, er verhinderte mit allen Mitteln, dass sie ein ganznormales Leben führen konnten. Und jetzt hatte sich Zola – angeblich mit Gottes Hilfe – aufgeschwungen, über sie alle zu verfügen.
Inzwischen war es vier Jahre her, seit Zola seine Rede gehalten und sich zum Anführer des Clans von Gottes Gnaden gemacht hatte. Vier Jahre Terror und Angst, die alles Vorherige übertrafen.
In der Nacht nach der Rede waren sie von ihrem Standplatz aufgebrochen. Sie hatten alles zurückgelassen, was bis dahin zu ihrem Dasein gehört hatte: Zelte, Gaskocher, Küchengerätschaften sowie einen Teil des Werkzeugs, das sie bei ihren Einbrüchen benutzten.
Als sie aufbrachen, waren sie zwanzig Erwachsene und ebenso viele Kinder. Alle trugen sie ihre besten Kleidungsstücke, die sie in Geschäften in Perugia gestohlen hatten.
Im Lauf der folgenden Tage waren sie durch Norditalien, Österreich und Deutschland gezogen, hatten zehn Luxusautos geknackt und mit falschen Nummernschildern ausgestattet. Danach hatte die Wagenkolonne den deutsch-polnischen Grenzübergang Świecko und von dort aus Poznań angesteuert. Wie sie die Autos loswurden und was sie einbrachten, darüber wurde nicht gesprochen. Eines Nachts befand sich die ganze Gruppe in einem Zug nach Norden, und Zola rief zwei Männer in sein Abteil, damit sie gemeinsam auf das Geld aufpassten. Es musste also ziemlich viel Geld sein.
In den folgenden Monaten zeigte sich, dass die von Zola ausgerufenen neuen Zeiten keinesfalls gleichbedeutend waren mit guten Zeiten. Mehrere Mitglieder des Clans verschwanden spurlos. Marco ahnte, warum: Sie hatten genug von Prügel, Drohungen und täglicher Not.
Alle wussten, dass Zola viel Geld hatte und dass er sein Geld liebte. Das war nie anders gewesen. Dass er dieses Geld als sein eigenes betrachtete, darüber waren sich alle einig. Dennochtat er so, als verwalte er das Familienvermögen – während die Clanmitglieder dafür sorgen mussten, dass es sich mehrte. Tag für Tag. Ein Ende der Tricksereien und Diebstähle, die schon seit frühester Kindheit zu Marcos Leben gehört hatten, war nicht in Sicht.
Im Winter ließen sie sich dann in Dänemark nieder. Sie mieteten zwei nebeneinanderliegende Häuser in einem ruhigen Wohngebiet in der Nähe von Kopenhagen. Nun gehörten nur noch fünfundzwanzig Personen zur Gruppe, Erwachsene und Kinder, und wäre Marcos Vater nicht so willensschwach gewesen, wären Marco und er ebenfalls mit den Abtrünnigen und mit der Frau verschwunden, die Marco »Mutter« genannt hatte und über die nun niemand mehr sprach.
Zola rief alle Clanmitglieder regelmäßig zu sich und versorgte sie mit vorzeigbarer Kleidung, weil sich das draußen auf der Straße besser machte, wie er sagte. Die Frauen und Mädchen bekamen lange Röcke
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