Erzaehl mir ein Geheimnis
Autoschlangen auf dem Highway erleuchteten die Nacht.
Wir steuerten auf einen Seitenstreifen zu. Es sah so schrecklich gewöhnlich aus, dieses Stück Asphalt, übersät mit Zigarettenkippen, Unkraut und zerbrochenem Glas.
Er brachte den Wagen zum Stehen und sah mich nicht an. Stattdessen beobachtete er den Verkehr, der sich unter der Brücke vor uns durchschlängelte.
»Da sind wir. Wo Xanda gestorben ist.«
Ihr Name aus seinem Mund war wie eine Explosion in meinem Kopf.
So lange hatte ich mir diesen Moment vorgestellt, die Geheimnisse von Xandas Leben und ihrem Tod vor mir ausgebreitet. Fünf lange Jahre hatten meine Eltern dieses Geheimnis weggeschlossen, aber jetzt war es da. Eine offene, blutende Wunde.
»Also, willst du aussteigen?« Andre sah mich an. Ich spürte seine Blicke, konnte ihm aber nicht in die Augen sehen.
»Noch nicht«, sagte ich und starrte die Stelle an, die er mir gezeigt hatte. Ein trostloses Stück Beton, übersät mit langen schwarzen Schrammen, eine Collage aus Metall und Gummi, das Hunderte von unsicheren Fahrern im Laufe der Zeit hinterlassen hatten. Ich stellte mir vor, wie der Impala in die Leitplanke krachte, die zerbrochene Scheibe, wie ihr Blut in die Polster und Nähte sickerte. Ich fragte mich, welche dieser Schrammen wohl von Xanda war.
Wir sprachen kein Wort und die Zeit zog an uns vorbei wie der Strom von Autos, die unter uns durchfuhren. Eine neue Welle aus Schmerz drohte mich zu verschlingen und ich versuchte, sie in meinem Kopf zu bannen. Schmerz von der Größe einer Murmel schwoll zu der Größe einer Wassermelone an, rosa und fleischig und pulsierend. Wenn ich nachgeben würde, müssten wir umkehren. Dazu war ich nicht bereit. Nicht, bevor ich nicht alles wusste. Nicht, bevor er mir die Wahrheit gesagt hatte.
»Ich bin so weit«, sagte ich und öffnete die Tür.
Außerhalb des Autos umhüllten uns die Geräusche der Stadt. Vielleicht würde Andre mit mir nach Hollywood fahren, wenn ich ihn fragte. Ich könnte Cartoons zeichnen, Kulissen malen oder meine Bilder auf der Straße verkaufen. Hätte ich nur ein Zehntel von Xandas Mut, dann könnte ich all das tun und würde ihren Platz an Andres Seite einnehmen. Ich könnte da weitermachen, wo sie aufgehört hatte, nur mit dem Unterschied, dass es jetzt auch noch Lexi gab.
Der Anblick des Betons war ernüchternd. Ich hatte irgendwie erwartet, eine Blutlache an der Stelle zu sehen, wo sie durch die Scheibe geflogen war, oder vielleicht die Kette aus Sicherheitsnadeln zu finden, die möglicherweise noch immer an einer Scherbe eines auf dem Boden liegenden, zerbrochenen Rücklichts hing.
Als wir zusammen dastanden und uns den Ort ohne Blut und ohne Xanda ansahen, nahm Andre meine Hand. Plötzlich fühlte ich mich wieder wie das zwölfjährige Mädchen, das in den Freund ihrer großen Schwester verliebt war, in den Jungen, der nett zu ihr war, lange bevor es ein anderer war.
»Meine Eltern haben mir erzählt, dass du sie umgebracht hast.« Während ich es aussprach, erkannte ich, dass es auch für ihn eine alte Wunde war. »Ich möchte, dass du mir die Wahrheit sagst.«
32
»Es war Heiligabend, erinnerst du dich?« Es schien absurd, hier am Straßenrand zu stehen und sich über die Lebenden und die Toten zu unterhalten. Es hatte aufgehört zu regnen, und kleine Rinnsale bahnten sich ihren Weg wie Adern durch Schotter und Glas.
»Ja. Ich erinnere mich. Fangen wir damit an, ich hasse deine verf…« Er hielt inne und starrte auf meinen Bauch. »Tut mir leid«, murmelte er. »Ich hasse deine Eltern.« Dann schwieg er, und der Verkehrslärm drängte sich wieder zwischen uns. Er kramte in seiner Hosentasche, zog eine Packung Zigaretten heraus und zündete sich eine an.
»Bist du sicher, dass du nirgendwo hinwillst? Zu Denny’s oder so?« Er zeigte auf sein Auto – auf einmal ein Objekt seiner Anziehungskraft und das Instrument zu Xandas Tod.
»Nicht zu Denny’s«, antwortete ich angeekelt. »Ich will Xandas Geschichte nicht im Denny’s hören.« Lautes Hupen dröhnte durch die Luft und verlor sich dann weiter unten auf dem Highway, jemand, der noch ungeduldiger war als ich. Ich nahm es Andre übel, dass er Xanda zum Sterben hierhergebracht hatte. Es hätte ein würdigerer Ort sein müssen, das war das Mindeste, was Xanda verdient hatte.
»Ich bin am Verhungern«, sagte er. »Macht’s dir was aus, wenn wir zu einem Drive-in fahren?«
Ich war kurz davor ihn anzuschreien. Denkst du, ich habe dich gefragt, ob du
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