Erzaehl mir ein Geheimnis
Exfreundin an einer Straßenecke auch unter diese Berufsbezeichnung fiel.
Er nahm nach dem ersten Klingeln ab. »Allo?«
Ich legte beinahe auf.
»Wer ist da?«
Ich konnte ihn durch den Regen und das Geschrei des Obdachlosen kaum hören. »Ich bin’s, Rand. Miranda. Xandas kleine Schwester. Ähm, wir haben uns gerade in der Bank gesehen, erinnerst du dich?«
»Wie könnte ich das vergessen?« Mein zwölfjähriges Ich zitterte wie eine der Sicherheitsnadeln an Xandas Kleid.
»Ich hab mich gefragt … könntest du mich vielleicht abholen?«
Ich wusste nicht, ob die Stille am anderen Ende bedeutete, dass er verblüfft oder zufrieden war, bis ein »mmh« in ein langes »mm-hmmm« überging.
»Jepp. Bin gleich da.« Keine Fragen. Unter anderen Umständen wäre es vielleicht aufregend gewesen. »Bist du zu Hause?«
»Nein. Ich bin …« Wo war ich? Das Reklameschild über meinem Kopf blinkte. »Cassandra’s Salon Supply.« Ich nannte ihm die Straßenkreuzung.
Ich kannte mich hier nicht wirklich aus, aber das war eigentlich von Vorteil, denn so war ich vor meiner Mutter sicher. Ihrem Wohlfühlempfinden nach waren wir definitiv auf der falschen Seite der Stadt, aber für Andre war es genau der richtige Teil. Als er mit seinem grünen Impala am Straßenrand hielt, hatte der Schmerz so weit nachgelassen, dass ich in der Lage war, zum Auto zu watscheln. Ich fühlte mich so verlassen und armselig. Als ich endlich im Auto saß, haute mich der Geruch von Zigaretten, Fett und Bier fast um. Die morgendliche Übelkeit war schon seit Monaten vorbei, aber das Aroma eines vergessenen Hamburgers auf dem Rücksitz und ein voller Aschenbecher waren genug, um mich an meine Grenzen zu bringen.
Der Regen dämpfte jeglichen Versuch dieses Stadtviertels, Weihnachtsfreude aufkommen zu lassen. Auf der anderen Straßenseite blinkte auf einer Reklametafel abwechselnd FROHE WEIHNACHTEN, die Uhrzeit 18:47 und die Temperatur 5°C.
In einer Stunde würde die Premiere der Weihnachtsaufführung beginnen. So viel Zeit hatte Andre also, um mich zur Kirche zu fahren, zu meinem Auftritt als die Art von Mädchen.
»Willst du irgendwohin?« Andre sah mich mit einem schiefen Grinsen erwartungsvoll an.
»Ja, will ich. Bring mich dahin, wo Xanda gestorben ist.« Sein Grinsen verwandelte sich in Betroffenheit.
Er gab Gas.
31
Der Impala war ordentlich repariert worden nach dem Unfall, der meine Schwester getötet hatte. Obwohl es im Inneren nach Kippen und altem Fleisch roch, sah er von außen aus wie neu. Die Fenster waren heller, als ich sie aus jener Nacht in Erinnerung hatte, in der ich Andre und Xanda durch die Schatten hatte huschen sehen, wie dunkle Fische in einem trüben Teich.
Mein einziger Gedanke war, dass ich auf Xandas Platz saß und dass ich ihre Präsenz in mich aufnahm, wie eine Blume die Sonne und den Regen aufnimmt. Was von ihr noch da war, prägte sich in mein Innerstes ein. Das Baby konnte es auch fühlen. Das musste der Grund sein, warum sie so drückte.
Der Vordersitz war eine durchgehende Bank, es gab keine Konsole, keinen Schaltknüppel, nicht einmal eine Becherhalterung. Nur eine durchgehende Bank mit nichts, was Andre davon hätte abhalten können, mich an sich zu ziehen, wenn er es gewollt hätte. Mit Xanda hatte er das bestimmt oft getan. Der Schmerz rollte mit einer neuen grausamen Welle auf mich zu, als ob ich mit Xandas Seele verbunden wäre und sie mir zu verstehen gab: Bleib weg, bleib weg .
Wir hätten umdrehen können. Ich hatte immer noch mein Handy. Aber ich dachte, vielleicht hatte er Xanda nach Hollywood gefahren und sie wartete dort auf mich. Vielleicht brachte er mich jetzt dorthin. Ich wollte ihn fragen, aber sein Mund sah aus wie eine verschlossene Zellentür. Warum war er nie ins Gefängnis gekommen, wenn es stimmte, was meine Eltern erzählten?
Andre steckte sich eine Zigarette an, blickte dann verbittert auf meinen Bauch und warf sie aus dem Fenster.
»Ich sagte, bring mich dahin, wo Xanda gestorben ist«, wiederholte ich in der Hoffnung, er würde nur die Entschlossenheit, nicht die darunterliegende Panik in meiner Stimme hören. Er fuhr schneller. Ob er was getrunken hatte? Ich wollte ihm jetzt nicht mehr so nahe kommen, dass ich es merken würde, aber ich konnte etwas riechen. Irgendetwas stimmte nicht. Ich fragte mich, ob Xanda das Gleiche gerochen hatte, bevor sie gestorben war.
Ich erinnerte mich, irgendwann mal gelesen zu haben, dass Riechen die einzige Sinnesempfindung sei, die direkt
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