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Erzaehl mir ein Geheimnis

Erzaehl mir ein Geheimnis

Titel: Erzaehl mir ein Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holly Cupala
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hätte, wenn ich die Spur nicht gewechselt hätte oder nicht zur Seite gesehen hätte … wenn ich besser … ach, ich weiß es nicht. Es ist einfach schwer, nicht darüber nachzudenken.«
    »Ich weiß.« Ich nahm seine Hand, die vom ständigen Aufbauen und Einreißen auf Baustellen rau und trocken geworden war. So wie die meines Dads oder die eines großen Bruders.
    »Es ist seltsam, dich anzusehen.« Sanft hielt er meine Hand.
    »Warum?«
    »Es ist, als wäre sie hier, als wäre sie ein Teil von dir.« Er suchte mein Gesicht ab, genauso wie ich es vor dem Spiegel tat – nach Anzeichen von Xanda.
    »Oh«, sagte er unvermittelt und ließ meine Hand los, »das hätte ich beinahe vergessen. Ich hab da was von ihr, das du vielleicht gerne haben möchtest. Sie hatte es bei sich, als wir vom Haus deiner Eltern wegfuhren.«
    Andre lehnte sich auf die Beifahrerseite und kramte im Handschuhfach. Als er die Hand wieder hervorzog, baumelte eine Kette daran.
    Die Kette aus Sicherheitsnadeln. Die Kette, die ich vor fünf Jahren für sie gebastelt und ihr geschenkt hatte, in der Nacht, als sie starb. Ich wandte mein Gesicht ab, er sollte nicht sehen, was gerade in mir vorging. Mit brennenden Augen starrte ich auf die Stelle, an der sie gesprungen war.
    Mit meinem Schuh begann ich, Schotter, Glas und die Zigarettenkippen Tausender Autofahrer wegzuschieben. Je mehr Dreck ich wegschob, desto bewusster wurde mir, dass das schon vor langer Zeit hätte getan werden müssen. Andre langte auf den Rücksitz, griff sich einen Stapel Fast-Food-Servietten, und stumm machten wir uns an die Arbeit, die Schichten aus Schmutz und Vernachlässigung zu beseitigen.
    Ich hatte mich in Andre getäuscht. Wie auch in so vielen anderen Dingen. Der Andre aus meinen Gedanken war derjenige, der sie von den Fesseln ihrer Familie befreien würde. Der Andre aber, der vor mir stand, konnte nicht mal sich selbst von seinen eigenen Schuldgefühlen befreien.
    Im Kofferraum des Impala hatte Andre einen Hammer, Nägel und ein paar weiße Restholzstücke. Er zimmerte die Holzstücke zu einem Kreuz zusammen und lehnte es mit Steinen beschwert gegen die Leitplanke. Ich nahm ein paar der Sicherheitsnadeln aus der Kette und schlang sie um das Holz, den Rest der Kette legte ich um meinen eigenen Hals.
    Aber irgendetwas fehlte. Worte. Ein Bild. Ein Name.
    Alles, was ich bei mir hatte, war das Foto, das ich bei Dylan hatte mitgehen lassen, und die Tuschezeichnung von Xanda, auf der ihre Haare sich als Labyrinthe über ihr Gesicht ziehen. Ihre Augen. Die Geheimnisse, die sich in ihrem Geist verbargen.
    Hier, an dieser Stelle, gemeinsam mit Andre, schien ich das Ende erreicht zu haben – zumindest das Ende eines der Geheimnisse. Auch wenn ich niemals alles über Xanda erfahren würde.
    Gemeinsam befestigten wir meine Zeichnung an dem Kreuz.

33
    »Bist du sicher, dass ich dich nicht nach Hause fahren soll?«, fragte Andre. Seine Augen durchdrangen die Dunkelheit, die gleichen Augen, die schon mein zwölfjähriges Ich in ihren Bann gezogen hatten. Ich konnte die Freundlichkeit in ihnen sehen. Wir sind beide zerbrochen an dem Kreuz, das wir geteilt hatten.
    »Ja«, schniefte ich. »Ich gehe nicht mehr dahin zurück.« Obwohl ich es gekonnt hätte. Denn die Uhr auf dem Armaturenbrett mit ihrem zersprungenen Glas zeigte 20:39. Neununddreißig Minuten nach Beginn der Premiere, da müsste unser Haus leer sein. Aber nachdem ich all das mit Andre erlebt hatte, wusste ich, wohin ich jetzt gehen musste und was ich zu tun hatte.
    Er fuhr mich zur Aula der Schule. Sie war nach dem Motto des Winterballs dekoriert, ein großes Banner – ERINNERE DICH IMMER AN DIESE NACHT – von Miss Delaney Erinnere-dich-immer-wie-toll-ich-in-dieser-Nacht-war Pratt höchstpersönlich ausgewählt.
    Ein Bogen aus lilafarbenen Ballons schwebte in der klirrend kalten Winterluft, unterbrochen von silbernen Glitzersternen, die an der Dachrinne hingen.
    Ich sah Andre nach, der in seinem Impala davonfuhr, und mit ihm meine letzte Chance zur Flucht. Eine neue Welle von Schmerz überkam mich und ich versuchte, sie zu unterdrücken. Ich war mir nicht sicher, wie ich das noch vierzehn Wochen durchhalten sollte.
    Zwei Lehrer hielten mir die Tür auf und warfen mir skeptische Blicke zu. Doch dann lächelten sie und machten eine überschwängliche Geste in Richtung des glitzernden Ballsaals. Eine lange Schlange von Pärchen bahnte sich ihren Weg zu einem Elfenbeinturm aus Plastik, der vor dem lila Hintergrund

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