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Erzaehl mir ein Geheimnis

Erzaehl mir ein Geheimnis

Titel: Erzaehl mir ein Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holly Cupala
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Mädchen wäre. Dann streichelte sie weiter sanft meinen Kopf, so sanft, dass ich weinen wollte. »Es geht ihm gut und er ist versorgt.«
    Eine Wehe brach über mich herein und ich dachte, es könnte nicht schlimmer werden. Dreißig Sekunden. Zwanzig. Zehn. Ich würde es noch ein paar Sekunden aushalten. Shelleys Berührungen, sie waren so wohltuend in den Tälern meines Schmerzes, doch auf den Bergen meiner Qual fühlten sie sich an wie Feuer.
    Viereinhalb Stunden später konnte ich verstehen, warum Jesus gesagt hatte: Es ist vollbracht , nachdem er die schlimmsten Schmerzen seines Lebens durchgestanden hatte. Durch die Fenster sah ich den Mond über den Bergen aufgehen.
    Shelley hatte mich die ganze Zeit mit Eiswürfeln gefüttert, mir ein Kissen gegeben, es wieder weggenommen, es zurückgegeben und mich schreien, schreien, schreien lassen. Ich fragte mich, ob meine Eltern mich den langen Gang hinunter und über die tiefe Kluft, die zwischen uns lag, hören konnten. Ich wollte, dass sie mich schreien hörten, so laut, wie sie niemals wegen Xanda geschrien hatten.
    Die Kinderärztin kam, um sich mit den Krankenschwestern zu beraten. Dann erklärte sie mir, was als Nächstes passieren würde. Pfleger schoben immer mehr Ausrüstung herein, ein durchsichtiges Plastikbabybettchen auf Rädern, mit einem Wirrwarr von Schläuchen und Gummihandschuhen zum Hineingreifen.
    »Das ist der Brutkasten für das Baby«, erklärte die Ärztin. »Sie wird zusätzlichen Sauerstoff benötigen und wir müssen sie sofort auf die Frühgeborenenstation bringen.« Sie nickte einige Male, als ob das ausreichend wäre, um mich zu überzeugen.
    Ich ruhte mich in den Tälern zwischen den Bergen aus, obwohl die Abstände immer kürzer wurden. Der Narkosearzt kam nicht mehr zurück, dafür aber meine Frauenärztin, zusammen mit einer Gruppe von medizinischem Personal, die meine und Lexis Fortschritte begutachteten und dann wieder verschwanden, bis ich Shelley anschrie: »Was machen die hier, wenn Lexi sowieso sterben wird?«
    »Du hörst mir jetzt mal zu«, sagte Shelley und sah mich erbarmungslos an. »Niemand sagt, dass dieses Baby sterben wird. Du weißt es nicht. Niemand weiß es. Sie geben hier ihr Bestes.«
    Ich atmete in kurzen, harten Stößen.
    »Was ist mit Micah James? Warum sollte er sterben und Lexi leben? Das macht keinen Sinn!« Ich warf das Kissen wieder auf den Boden und stieß dabei gegen den Rolltisch. Der Becher mit Eiswürfeln flog quer durch den Raum.
    »Vieles im Leben ergibt keinen Sinn, bis man es mit etwas Abstand betrachten kann. Deshalb braucht es Vertrauen, mein kleines Mädchen.« Sie flüsterte, oder ich war wieder so tief in meinem Schmerz versunken, dass ich sie nicht lauter hören konnte. »Richte deine Augen auf die Zukunft, denn dort liegen die Antworten. Dort liegt die Hoffnung.«
    »Das stimmt nicht«, stöhnte ich. »Wir treffen Entscheidungen, und wir müssen dafür bezahlen.« Ich konnte nicht mehr liegen. Der Schmerz in meinem Rücken brachte mich um. Ich setzte mich an den Bettrand und klemmte meine Füße in der Stange ein.
    Ein Berg drückte sich gerade durch meinen Rücken und ich war nicht mehr in der Lage zu diskutieren.
    »Halte mich!«, rief ich Shelley zu. Sie presste ihr gesamtes Gewicht gegen mich und der Berg zog sich zurück.
    Die Ärztin war sofort zur Stelle und für den Bruchteil einer Sekunde fragte ich mich tatsächlich, ob sie wohl in der Lage war, die Gewalt, die gerade aus mir herausbrach, aufzuhalten.
    »Ist es zu spät, die Wehen zu stoppen?«, fragte ich fordernd.
    »Ja«, sagte die Ärztin lächelnd, »viel zu spät.« Für dieses Lächeln hätte ich ihr eine reinhauen können. Stattdessen griff ich nach meinen Knien und zog die Beine an, während Shelley mich festhielt, damit ich nicht auseinanderbrach.
    »So, und jetzt langsam«, sagte die Ärztin, »du presst nur, wenn ich es dir sage.«
    Ich hörte auf zu pressen. Und als sie sagte, ich solle pressen, tat ich es.
    Und plötzlich war es vorbei. Ich war kaum noch bei Bewusstsein und da war sie, dieses winzige, beinahe durchsichtige Ding, das aussah wie eine Wachspuppe. Sie war bläulich und dünn, wog nicht mehr als ein Stofftier und ähnelte eher einer Rosine als einem Menschen.
    Aber trotzdem, sie war wunderschön.
    Sie hatte Kamrans Kopfform. Meine Lippen. Xandas herzförmiges Gesicht. Die Umrisse, die auf dem Ultraschallbild nur als Schatten zu sehen gewesen waren, hatten jetzt eine deutliche Form. Greifbar und real.

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