Erzaehl mir ein Geheimnis
zu mir gesagt hatte. Wir lernen zu vergeben . Schuldzuweisungen waren die Unfähigkeit, anderen zu vergeben. Schuldgefühle waren die Unfähigkeit, sich selbst zu vergeben. Jede von uns hatte ein bisschen von beidem.
»Nein«, sagte ich. »Ich denke nicht, dass es deine Schuld war.« Ich spürte, dass ein Teil von mir davonflog wie der Vogel in meinen Zeichnungen. Der Teil, der seit sehr, sehr langer Zeit diese Schuld mit sich herumgetragen hatte.
»Es war meine Schuld. Xanda ist tot, dein Vater hat mich verlassen, und du …« Sie beendete den Satz nicht, aber ich wusste, sie würde etwas über Lexi sagen.
»Lexi ist keine Bestrafung«, sagte ich sanft. »Wenn du sie nur sehen könntest …« Ich fischte meinen Skizzenblock aus dem Rucksack. Im Krankenhaus hatte ich Lexi immer und immer wieder gezeichnet, bis mein Bleistift mit ihrem Gesicht so vertraut war wie mit meinen Labyrinthen.
»Ich habe Bilder von ihr gemacht. Und … ich kann dir meine Zeichnungen zeigen.«
»Lexi«, sagte Mom. Ich hielt die Luft an und wartete auf ihre Anklage. »Der Name ist wunderschön.«
Ein weiterer Teil von mir flog davon. Der Teil, der so lange auf diese Worte gewartet hatte.
Die Zeichnungen, die wir uns zusammen ansahen, berührten sie – Lexi, wie sie so winzig inmitten all der Decken und Monitore aussah, und dann, wie sie jede Woche ein Stückchen wuchs. Die einzigen Labyrinthe waren die Schläuche und Kabel, die nach und nach verschwanden, während sie riesige Schritte in die Unabhängigkeit machte. Auf dem letzten Bild trug sie die rosa Mütze, die mir Essence von meiner Mom mitgebracht hatte. Ihr Gesicht war eingebettet in weiche Baumwolle und ihre Augen strahlten.
»Ich weiß, warum du das alles getan hast«, sagte meine Mom sanft. »Ich hätte Xanda auch nicht aufgegeben.« Sie seufzte, als sie den Blick über die Fotos schweifen ließ, und hob das Bild aus dem Krankenhaus auf, mit ihr, Dad und Xanda. »Du wirst es vielleicht nicht glauben, aber alles, was ich getan habe, sollte deine Schwester und dich davor bewahren, den gleichen Fehler zu machen wie ich. Vielleicht verstehst du es jetzt, nach dem, was du durchgemacht hast. Und Andre war so sehr wie …«
»Wie Dad? Mom, du führst dich auf, als ob er die letzten fünfzehn Jahre Bier trinkend auf der Couch gesessen hätte, anstatt sich für uns alle so abzurackern. Siehst du denn nicht, wer er wirklich ist? Er ist nicht Chuck . Chuck existiert gar nicht.«
Mom nickte mit Tränen in den Augen. »Es ist komisch. Ich hätte niemals gedacht, dass dein Dad einfach so gehen würde. Aber jetzt, wo er weg ist …« Sie wischte sich die Tränen ab. »Ich hätte … nie gedacht, dass ich ihn so vermissen würde.«
»Du musst mit ihm reden.« Sobald ich das gesagt hatte, fühlte ich mich schuldig wegen Kamran. Ich hatte mich ihm gegenüber nicht fair verhalten. Ich hatte mich geweigert, mit ihm zu reden, vor allem nicht über das Wichtigste. Obwohl es nicht okay war, konnte ich doch verstehen, warum er mit mir Schluss gemacht hatte. Wie es mein Dad mit Mom getan hatte. War es überhaupt möglich, irgendetwas richtig zu machen?
Mom nickte. »Alles hat sich so verändert seit …« Sie stockte, sah mich an, bevor sie fortfuhr: »… seit Xanda gestorben ist. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll.«
Ich legte meinen Skizzenblock zur Seite. »Du könntest Dad erzählen, was du mir gerade erzählt hast.«
Vielleicht gab es eine Möglichkeit, neu anzufangen, mit Lexi. Ich wusste, dass es schwierig sein würde, wirklich zu verzeihen, aber wenn uns jemand dabei helfen konnte, dann sie.
Ich hob ein Foto auf, dann noch eins, und Mom tat das Gleiche. Gemeinsam sammelten wir die zerstreuten Fäden unseres Lebens zusammen.
45
An meinem achtzehnten Geburtstag wurde ich zu einer großen Schwester.
Es war komisch, Xanda endgültig hinter mir zu lassen, eingefroren in Erinnerungen und Fotografien. Nachdem wir die Fotos im Arbeitszimmer sortiert hatten, rahmten Mom und ich die Bilder und hängten sie auf. Xanda, mich, meine Eltern, unsere Freunde und jeden Tag ein paar mehr von Lexi. Sieht so Vergebung aus? Ich hatte nicht viel Zeit, um darüber nachzudenken, mit einer weinenden Lexi auf der einen Seite und meiner Mom und ihren guten Ratschlägen auf der anderen Seite.
»Du musst dich beeilen, dein Dad holt dich gleich zu der Cornish-Besichtigungstour ab.«
Ich betrachtete mich kritisch im Schlafzimmerspiegel. Ich war selbst für meine engsten Jeans zu dünn nach all den
Weitere Kostenlose Bücher